Gründung des Mülheimer Sportbundes
„Wir leben heute in einem hochtechnisierten Zeitalter“, stellte 1969 der Stadtverband für Leibesübungen Mülheim an der Ruhr anlässlich seines 50-jährigen Bestehens fest. „Die Bewegungsarmut, die Zunahme der freien Zeit [und] die Vereinsamung des einzelnen Menschen in der Massengesellschaft“ würden ganz deutlich eines aufzeigen: „die Notwendigkeit regelmäßig betriebener Leibesübungen“.
Nun sind letztere inzwischen aus dem allgemeinen Sprachgebrauch verschwunden, doch ansonsten ist das Manifest in Zeiten von Fast Food und Smartphone aktuell wie nie. Ein Glück also, dass der Stadtverband – 1970 in Stadtsportbund Mülheim an der Ruhr (SSB) und 1996 schließlich in Mülheimer Sportbund (MSB) umbenannt – auch im neuen Jahrtausend so aktiv ist wie eh und je. Im November 2019 feiert er sein 100. Gründungsjubiläum.
Dabei waren die Anfänge bescheiden. Am 19. November 1919 trafen sich Vertreter der Mülheimer Sportvereine und -verbände sowie der Stadtverwaltung zur Gründungssitzung in der Gaststätte „Kaiser Friedrich“ in der Kaiserstraße. Treibende Kraft hinter der Versammlung war Martin Gerste, seines Zeichens städtischer Turn- und Spielinspektor. Bereits 1911 hatte Gerste die „Vaterländischen Festspiele“ ins Leben gerufen, einen Sportwettkampf für Mülheimer Jugendliche, der seither jährlich veranstaltet wurde und dessen Erfolg entscheidend zur Gründung des Stadtverbandes beitrug. Gerstes Wahl zum Vorsitzenden war bloße Formsache.
Von der Mülheimer Politik forderte der Stadtverband unter anderem die Einrichtung öffentlicher Sport- und Spielplätze sowie die Einführung von mindestens sechs Wochenstunden „Körperübung“ in der Schule. Außerdem, so die Teilnehmer der Gründungssitzung, müsse „vollständige Neutralität gegenüber partei- und kirchenpolitischer Strömung“ gewahrt bleiben, „um gedeihliche Arbeit zu ermöglichen“.
Die ersten Jahre des Verbandes waren geprägt von der schwierigen Anfangszeit der Weimarer Republik. Trotzdem konnte 1924 mit dem Schwimmstadion in der Styrumer Ruhraue das seinerzeit größte Freibad Deutschlands eingeweiht werden. Ein Jahr später folgte unmittelbar angrenzend das Styrumer Stadion, das heutige Ruhrstadion, dessen Einweihungsfeier von 15.000 Zuschauern verfolgt wurde. Derweil wuchs der Stadtverband zusehends: 1928 gehörten ihm bereits 61 Vereine mit insgesamt ungefähr 7.500 Mitgliedern an, 1930 wurde erstmals die Grenze von 10.000 Mitgliedern überschritten.
Martin Gerste wurde inzwischen ob seines Engagements liebevoll „Mülheims Turnvater“ genannt. Die Machtübernahme der Nationalsozialisten setzte seinem sportlichen Erbe jedoch vorerst ein Ende. Im März 1933 wurde der Stadtverband für Leibesübungen aufgelöst, 1935 fanden letztmalig die Vaterländischen Festspiele statt. Spätestens mit der Bildung des Nationalsozialistischen Reichsbundes für Leibesübungen 1938 und den damit einhergehenden Repressalien auch auf kommunaler Ebene kam der unabhängig organisierte Sport in Mülheim vollständig zum Erliegen.
Doch der Neuanfang nach dem Zweiten Weltkrieg ließ nicht lange auf sich warten. Schon Ende Mai 1945 trafen sich – abermals auf Anregung des mittlerweile 72-jährigen Gerste – die Vertreter von sechs Mülheimer Sportvereinen zum Gespräch. Kaum ein halbes Jahr später, am 2. November, war die Neugründung des Stadtverbandes beschlossene Sache. 1946 belebte der Verband auch die Vaterländischen Festspiele wieder, nämlich in Form der „Mülheimer Turn- und Sportwoche“, die ab 1949 als „Mülheimer Jugendfestspiele“ firmierte. Weiter trieb man in den nächsten Jahrzehnten den Wiederauf- und Neubau von Sportstätten voran, schloss internationale Sportpartnerschaften und nahm regelmäßig an Wettkämpfen im In- und Ausland teil.
Im Jahr 2019 versammelt der MSB als Zusammenschluss von 149 Sportvereinen etwa 37.000 Mitglieder unter seinem Dach. Aus der Mülheimer Stadtgesellschaft ist er nach 100 Jahren tatkräftigen Einsatzes für den Sport nicht mehr wegzudenken.
(Fü)