NS-Deutschland im Luftkrieg und Kriegslage 1943
Der Luftkrieg im Zweiten Weltkrieg begann direkt am 1. September 1939 mit dem Überfall auf Polen, an dem auch die deutsche Luftwaffe beteiligt war. Im Jahr 1943 lag die Initiative nicht mehr bei ihr. Die Ziele der Briten und Amerikaner waren, die Luftüberlegenheit über dem Deutschen Reich zu erringen und diese zu nutzen, um deutsche Militäreinrichtungen, Infrastrukturanlagen und Produktionsstandorte zu zerstören sowie, die deutsche Bevölkerung zu demoralisieren, die sich vom NS-Regime und Führer abwenden sollte. – Die Doktrin von Hugh Trenchard, der die Royal Air Force von 1919 bis 1929 kommandierte, ging davon aus, dass das Bombardieren von Wohngegenden den Durchhaltewillen von Zivilisten schwäche.
An drei Fronten (im Osten, in der Heimat und im Westen) waren die Kriegsereignisse 1943 für Deutschland negativ: Im Deutsch-Sowjetischen Krieg sollten im Mai durch den Abwurf von einer Milliarde Flugblätter – also das größte deutsche Propagandaprojekt im Weltkrieg – viele Rotarmisten zur Desertion motiviert werden. Im Juli startete das Unternehmen Zitadelle, das als die größte Schlacht des Weltkrieges gilt. Diese letzte Großoffensive griff Kursk an. Beide Aktionen scheiterten. Der Bombenkrieg kam nach Deutschland: In der Nacht vom 1. auf den 2. März erfolgte der erste große Angriff auf Berlin mit 709 Toten und 65.000 Ausgebombten. Mitte Mai griffen die Briten das Sauerland und Hessen an. Rollbomben zerstörten die Eder- und Möhnetalsperre; infolge der Sturzflut starben circa 1600 Menschen. Von Ende Juli bis Anfang August bombardierten Briten und Amerikaner auch Hamburg (Operation Gomorrha); rund 35.000 Menschen kamen um. Der Atlantikwall wurde von 1942 bis 1944 geplant und fertiggestellt, um den Einfall von Großbritannien aus zu verhindern. Diese Verteidigungslinie entlang der Küsten des Atlantiks, Ärmelkanals und der Nordsee besaß militärische Bauten (insbesondere für die Artillerie), die erst durch die Herstellung bunkerbrechender Bomben, wie die 5-Tonnen-Bombe Tall-Boy, unbrauchbar gemacht werden konnten.
Luftangriffe der Alliierten auf das Ruhrgebiet
Am 9. August 1939 hatte der Reichsminister der Luftfahrt, Hermann Göring, in Essen gesagt, dass das Ruhrgebiet „nicht einer einzigen Bombe feindlicher Flieger ausgeliefert“ werde. Nach der Niederlage Frankreichs (1940) begriff Großbritanniens neuer Premierminister, Winston Churchill, die Bomberangriffe als einzigen Weg, den Krieg in das Reich zu tragen. Sämtliche Luftangriffe vom März bis August 1943 waren Vorboten der Schlacht um die Ruhr. Während dieser Monate waren enorme Verwüstungen in den Groß- und Industriestädten festzustellen und zahlreiche zivile Todesopfer jeden Alters, auch unter den Zwangsarbeiter*innen, zu beklagen. Vor dem Hintergrund der Vernichtung der deutschen 6. Armee und verbündeter Truppen im Winter 1942/1943 in Stalingrad wirkte dieser Flieger-Krieg im deutschen Luftraum als ein psychologischer Einschnitt für die Zivilisten und taktischer Alptraum für die Militärs.
Das Rheinland und Westfalen lagen weit im Hinterland der Front im Westen, nachdem die Alliierten ihre Invasion in der Normandie (Operation Overlord) am 6. Juni 1944 erfolgreich durchgeführt hatten. Infanteristen aus den USA, Großbritannien, Kanada, Frankreich und Polen kämpften sich langsam bis an den Rhein vor. United States Army Air Force (USAAF) und British Royal Air Force (RAF) unterstützen den Vormarsch. Brücken und Konvois mit Nachschub für die Wehrmacht und Schutzstaffel (SS) wurden beschädigt oder zerstört.
Die Luftangriffe auf das Ruhrgebiet geschahen in mehreren Phasen: Air Battle of the Ruhr (von Februar bis Juli 1943, auch von August bis Dezember 1944), Interdiction of the Ruhr (im Februar und März 1945). Diese Luftoffensiven trafen bei Tag und Nacht ausgewählte Verkehrsanlagen, Industriebetriebe und Wohnblöcke. Jedoch überschätzten die Alliierten den Wert des Ruhrgebiets für die Kriegswirtschaft, obwohl in der NS-Propaganda die Stadt Essen, wegen Krupp, als Rüstungsschmiede galt. Dagegen war der Verlust an abgeschossenen und beschädigten Bombern groß. Gleichwohl sank mit den Angriffen 1943 die Stahlproduktion, aufgrund häufiger Luftalarme, um 10 Prozent. Für die erhebliche Störung in der Zulieferung von Gütern aus dem Ruhrgebiet an andere Rüstungsstandorte waren die Beschädigungen der Gleisanlagen bedeutsam. Einerseits wurde nach innen das Rüstungswunder weiter gefeiert, andererseits sind ausländischen Presseberichten zu Produktionsausfällen von 50 Prozent nicht widersprochen worden. Der Führer, Adolf Hitler, wollte genau diesen Anschein bewahren.
Angriffsstrategien der Alliierten im Luftkrieg über Deutschland
Im Dezember 1939 starteten die ersten alliierten Luftangriffe bei Tag, die verlustreich waren. Die Nacht versprach Schutz vor deutschen Jagdflugzeugen und Flugabwehrkanonen (Flak). NS-Funktionäre hatten vorgesorgt, denn die Verdunkelung behinderte die Bomberpiloten bei der Navigation sowie Orientierung. Im Ruhrgebiet kam erschwerend Smog und Nebel hinzu, die häufig gezielte Angriffe vereitelten. Dieses natürliche Hindernis relativierte sich 1942, weil in den neuen viermotorigen Maschinen modernste Technik – wie das Navigationssystem GEE, das Zielfindungssystem OBOE und das H2S-Panorama-Bordradar – eingebaut war. Winston Churchill bildete im Mai 1940 eine Allparteienregierung, auch mit der Labour Partei, und übernahm sowohl das Amt des Premierministers als auch das des Kriegsministers. Churchill wies oft den Wechsel der Taktik im Luftkrieg an: 1940 griffen einzelne Flugzeuge und kleine Verbände die Ruhrbetriebe an. 1941 flogen die Bomber in großen, geschlossenen Verbänden gegen strategische Ziele. Diese wurden in zwei Bestimmungen festgelegt: Atlantic Directive (März 1941) und Transport Directive (Juli 1941). Die Angriffe auf die Industrie im Ruhrgebiet waren nicht so erfolgreich. Darum wurde Mitte Februar 1942 die Anweisung zum Flächenbombardement (Area Bombing Directive) gegeben, die in Kraft blieb. Ab September 1944 wechselten sich Briten und Amerikaner bei kombinierten Tag- und Nachtangriffen ab. Sie kooperierten auch, welche Besatzungen für Bomber mit Begleitjägern eingesetzt werden. Nun wurden die Städte als Ziele anvisiert, um so den Kampfwillen der Zivilbevölkerung, speziell den der Arbeiter, zu mindern. Wohnsiedlungen und Innenstädte wurden zu Ruinen, weshalb die Auswirkungen auf wichtige Bereiche des öffentlichen Lebens massiv waren. Insofern waren die Bombardierungen der Städte im Ruhrgebiet fatalerweise sehr effektiv.
Luftangriff der Alliierten auf Mülheim am 22./23. Juni 1943
Wie bekannt, für die deutsche NS-Führung war die Kriegslage 1943 an drei Fronten prekär. Das einstige Versprechen von Hermann Göring, dass das Ruhrgebiet „nicht einer einzigen Bombe feindlicher Flieger ausgeliefert“ werde, wurde gebrochen. Briten und Amerikaner änderten mehrfach die Strategie für den Luftkrieg. Ab 1943 war die Wirkung von nächtlichen Angriffen großer Flugzeugverbände zur Bombardierung der Industrieanlagen sowie vor allem der Innenstädte, wegen der Zerstörungswucht zahlreicher Bombentypen, verheerend.
In der Nacht zum 23. Juni 1943 wurde Mülheim das Ziel des schwersten Luftangriffes während des Zweiten Weltkrieges. Etwa 560 britische Bomber umkreisten von 1 Uhr bis 3 Uhr in drei Wellen die Stadt. Das Flächenbombardement zerstörte in der Innenstadt 65 % der Gebäude (die in enger Fachwerkbauweise standen) und 530 Menschen verloren ihr Leben, ungeachtet davon, ob sie Gegner oder Anhänger des Regimes waren. Dessen Politik genoss in großen Teilen der Bevölkerung von Mülheim über längere Zeit erheblichen Rückhalt. Militärstrategische Ziele wurden auch getroffen, zum Beispiel: Deutsche Röhrenwerke und die Friedrich-Wilhelms-Hütte für die Rüstungswirtschaft, die Firma Schmitz-Scholl zum Proviantieren der Wehrmacht und das Eisenbahnausbesserungswerk Speldorf für die Logistik. Dieses war einer der Knotenpunkte für die Rheinische wie auch für die Märkische Eisenbahn. Sie waren für den Transport von Mensch und Material wichtig. In diesen Produktionsstätten von Mülheim wurden 25.000 Zwangsarbeiter eingesetzt, deren Schutz den Firmen oblag. Während des Krieges wurde Mülheim an der Ruhr insgesamt 160-mal aus der Luft attackiert, wobei nur sechs Angriffe gezielt der Stadt galten. Die übrigen waren Teilangriffe der Alliierten auf dem Weg nach Essen, Duisburg und Oberhausen. Verglichen mit Mülheim waren diese drei Ruhrgebietsstädte regelmäßig Flächenbombardements ausgesetzt.
Bei Angriffen wurde die Botschaft des Oberbefehlshabers britischer Flugzeuge abgeworfen. Diese trug ein Faksimile der Unterschrift von Sir Arthur Harris. Mit der autoritativen Unterschrift des obersten britischen Luftwaffenkommandeurs sollte dieses Feind-Dokument bei den Deutschen große Beachtung und unter ihnen weitere Verbreitung finden.
Im Zuge der nächtlichen Bombardierung von Mülheim starben nicht nur 530 Einwohner, sondern auch 198 Angehörige des British Bomber Command. Dieses Kriegsereignis verbindet sie miteinander; ihre Lebensgeschichten gehören zusammen. Aus diesem Grund wird exemplarisch über Pilot Officer Francis Max McKenzie und Anneliese Traub berichtet.
Francis Max McKenzie stammt aus Dannevirke, Neuseeland. Er meldete sich 1940, gleich nach dem Kriegseintritt von Neuseeland, freiwillig zum Wehrdienst bei der Royal New Zealand Air Force (RNZAF). In Neuseeland und England erhielt er seine Ausbildung zum Bomberpiloten. Er wurde bei Oostrum in den Niederlanden durch einen deutschen Nachtjäger abgeschossen. Aus der Stirling BK 810 sprangen sechs Besatzungsmitglieder ab, außer ihm selbst als Pilot. Fünf seiner Kameraden überlebten den Fallschirmsprung. Sie wurden in Gefangenenlagern interniert. Seine Leiche wurde auf dem Jonkerbos-Soldatenfriedhof bei Nijmegen beerdigt. Der Auszug des übersetzten Briefes vom 24.06.1943 vom Kommandeur des 75. Geschwaders an Frau McKenzie informiert über den Abschuss von Francis Max am 23. Juni 1943:
„[…]. Sein Verlust, ich bete dafür, dass er sich als vorübergehend herausstellt, ist ein schwerer Schlag für die Squadron, für die Soldaten und für die große Sache, für die er kämpfte. [Absatz] In der Nacht, als er nicht mehr zurückkam, flog er seinen zweiten Einsatz mit unserer Squadron als Captain seines eigenen Flugzeugs. Er war dazu eingeteilt, ein stark verteidigtes Ziel tief in deutschem Gebiet anzugreifen. Nachdem seine Maschine das Flugfeld verlassen hatte, erhielten wir keine weitere Nachricht. […].“
Anneliese Traub lebte mit ihren Kindern in Mülheim. Ihr Mann Daniel war seit September 1941 Soldat im Russlandfeldzug. Wie durch ein Wunder überlebte sie mit ihren Kindern den Luftangriff auf Mülheim am 22./23. Juni 1943. Sie konnte sich mit Ulrich, dem Jüngsten, gerade noch rechtzeitig in den nahen Luftschutzkeller retten. Karl und Angelika hatten Glück. Die Druckwelle explodierender Bomben ließ einen Schrank schräg fallen. Unter diesem war ein Hohlraum entstanden, in dem die zwei Kinder vor Angst zitternd unverletzt verharrten. Walter Traub schrieb an seinen Bruder, den Gefreiten Daniel Traub, am 3. Juli 1943 einen Brief, in dem Einzelheiten stehen, die sich auf diese Nacht oder eine der Nächte davor beziehen:
„Lieber Daniel! [Absatz] Es tut mir leid, dass wir erst heute zum Schreiben kommen. Unser Haus ist beschädigt, auch Lottes u. Annelieses Heim mit den Möbeln. Anneliese ist mit den Möbeln nach Wiedenest gefahren. Höflichs [Mutters Eltern und Geschwister] Wohnung muss geräumt werden. Höflichs wohnen eine Etage tiefer in der Schule. Die Stadt Mülheim ist total dahin; ich buddele jetzt schon 8 Tage mit 400 Gefangenen und einigen 1000 Soldaten. Noch brennt’s an einigen Stellen. Wir retten, was sich retten lässt. Noch sind nicht alle Keller freigelegt u. die Toten geborgen. Etwa 2000 sind’s bis jetzt. In anderen Städten waren es mehr. Wir liegen in Gottes Hand. Mit Psalm 46 grüßen wir wieder alle. Uns geht’s gut. [Absatz] Im Namen aller Trauben, Dein Bruder Walter“
Zur Darstellung der Luftangriffe auf das Ruhrgebiet gehören nicht nur die Aspekte wie die Bombennächte, Bunkererlebnisse, Flakhelfer der Hitlerjugend und die Kinderlandverschickung, sondern auch die Begleiterscheinungen der Kriegshandlungen: psychische Belastungen, Propaganda und Blindgänger. Als Reaktion auf Flugblätter, wie das von 1943 „Die Festung Europa hat kein Dach“, druckte 1943 die deutsche Propaganda das Pamphlet „Englands Alleinschuld am Bombenterror. Volksausgabe des 8. amtlichen deutschen Weißbuches“.
Gegen die alliierten Bomberbesatzungen wurde mit den Begriffen Luftpirat, Mörderbande oder auch Terrorflieger gehetzt. Ab Sommer 1943 häuften sich im Ruhrgebiet die Fälle außergesetzlicher Tötungen von Flugzeugbesatzungen, so gennannte Fliegermorde. Von NS-Behörden wurde die Lynchjustiz gegen alliierte Luftwaffenangehörige unzweideutig gebilligt. Der südwestfälische Gauleiter und Reichsverteidigungskommissar Albert Hoffmann erließ am 25. Februar 1945 sogar den Befehl zur Billigung von Lynchjustiz gegen Bomberbesatzungen. Allerdings wurden nach Kriegsende solche im Ruhrgebiet begangenen Kriegsverbrechen durch Institutionen der Besatzungsmächte konsequent verfolgt. Am 18. Dezember 1945 trat ein im Steeler Jugendheim untergekommenes Militärgericht zusammen. Sieben Personen mussten sich wegen der Ermordung dreier RAF-Flieger am 13. Dezember 1944 verantworten. Die drei abgeschossenen Briten waren auf dem Weg zum Fliegerhorst in Essen-Mülheim. Kurzerhand wurden sie von einigen Zivilisten von der Wickenburg-Brücke hinuntergestoßen. Der noch Lebende wurde von der Brücke herab erschossen. Die Rolle der beiden deutschen Soldaten, die der Begleitschutz für die drei Briten war, blieb ungeklärt. Zwar führte der englische Verteidiger, Major Stone, das Leid für die Bevölkerung durch den Luftkrieg an, aber die Urteilssprüche sahen zweimal die Todesstrafe durch Erhängen und fünfmal langjährige Gefängnisstrafen vor. Insgesamt gab es von Juni 1943 bis September 1945 zwischen 225 und 350 Fliegermorde im Reichsgebiet.
Alliierte Kampfpropaganda im Ruhrkessel 1945
Ende März 1945 begannen alliierte Truppen, das Ruhrgebiet einzuschließen. Grund der Einkesselung der deutschen Verbände war, dass damit Straßenkämpfe in den Ruinen der zerbombten Städte vermieden werden konnten. Anfang April 1945 schloss sich der Ruhrkessel (Ruhr Pocket). Zur Verhinderung des Beschusses eigener Truppen beschränkten sich die Alliierten darauf, über dem Ruhrgebiet nur Flüge zum Aufklären und Abwerfen von Handzetteln auszuführen. Briten und Amerikaner warfen also keine Bomben mehr auf Mülheim ab, sondern ließen Passierscheine sowie Englisch-Blitzkurse für Landser vom Himmel regnen. Sie beschossen diese Stadt an der Ruhr mit solchen Flugblättern mithilfe modifizierter Artilleriegeschütze, um die restliche Kampfmoral der deutschen Soldaten im Ruhrkessel zu untergraben.
Die Supreme Headquarters of Allied Expeditionary Force (SHAEF) bildeten das Koordinierungszentrum alliierter Expeditionsstreitkräfte in Nordwest- und Mitteleuropa. Diesem unterstand die anglo-amerikanische Abteilung zur psychologischen Kriegsführung (Psychological Warfare Division, PWD). In dieser arbeiteten emigrierte Deutsche und Österreicher – meist jüdischen Glaubens. Sie planten groß angelegte Schrift-Kampagnen, bei denen einzelne taktische Appelle an den deutschen Feind aufeinander abgestimmt waren. Beispiele sind die Passierscheine (Safe Conduct Pass) sowie Englisch-Blitzkurse für Landser. Sie spielten mit „typisch deutschen“ Tugenden als Schwachstellen (wie: Bürokratieaffinität, Obrigkeitshörigkeit und Gründlichkeit), die psychologisch ausgenutzt wurden. Diese Projekte waren erfolgreich, weil durch die gewaltlose Aufgabe der Krieg verkürzt werden konnte.
Der Passierschein argumentierte nicht propagandistisch oder ideologisch, sondern gab subtile Hinweise zur Desertion und enthielt direkte Zusicherungen seitens der Alliierten. Dieser hatte ein vertrauenserweckendes Erscheinungsbild, aufgrund der amtlich wirkenden Siegel oder Wappen. Daher wurde er als glaubwürdig angesehen. Ferner enthielt er mit Absicht eine semantische Dehnbarkeit des Wortes passieren. Zweck war es, den Soldaten das Überlaufen zu erleichtern, die sich noch immer an ihre Soldatenehre und die Loyalität zum Führer gebunden fühlten. Sie konnten sich leichter einreden, mit einem offiziellen Dokument die feindlichen Linien zu passieren. Dieses Papier nutzte den deutschen Soldaten als eine Art von Rückversicherung bei Bedarf. Daher erleichterte dieser Flugblatttyp den kriegsmüden Soldaten die Desertation. Der Passierschein wurde durch Rückmeldungen von kooperativen deutschen Kriegsgefangenen bis Kriegsende laufend überarbeitet.
Der Flugzettel Fünf Minuten Englisch gab direkte, sprachliche Anleitungen zum Überlaufen. Er hatte ein funktionales und schlichtes Aussehen, damit die deutschen Soldaten in ihren Stellungen entweder offen oder auch unbemerkt die englischen Vokabeln und Sätze in Tabellenform auswendig lernen konnten. Daher wurde er angenommen und mit geführt. Briten und Amerikaner gingen davon aus, dass die vielen, einfacheren deutschen Soldaten kein Englisch sprachen. Für die Franzosen ist nicht belegt, dass sie Sprachzettel druckten.
Die Abteilung zur psychologischen Kriegsführung (PWD) konzentrierte sich auf den nachrichtendienstlich beobachteten Akt der Desertion, der sich ab Mitte 1944 stark häufte. Das Überlaufen ging mit den erhobenen Händen wie auch mit dem performativen Sprechakt „Ich ergebe mich!“ / „I surrender!“ einher. Dieser Imperativ wurde als rhetorisches Element in die Kampfpropaganda integriert, um mutlose deutsche Soldaten in Anbetracht der baldigen Niederlage anzusprechen. Die deutsche Gegenpropaganda verunglimpfte diese als Defätisten, die schnellst möglich hinzurichten wären, was sogenannte fliegende Standgerichte auch taten. Die PWD-Soldaten konzipierten instruktive Blitzsprachkurse in Englisch zum Erlernen von Schlüsselphrasen. Damit die deutschen Soldaten flott Fortschritte im Spracherwerb erzielten, wurde das phonetisch verständliche Aussprechen von Phrasen (wie: „Ich ergebe mich!“ / „I surrender!“ / „Ei sörrender!“) befürwortet. Die Floskeln waren angeordnet in alphabetischer Reihenfolge je nach Anfangsbuchstaben der Sätze oder in logischer Abfolge der Sätze zur Simulation der Desertion. Somit wurde es den deutschen Soldaten – rein auf der Ebene der Sprache her – so leicht wie möglich gemacht, sich den alliierten Truppen zügig zu ergeben. Daher lag der Schwerpunkt dieses Flugblatttyps nur darauf, einfache Instruktionen zu geben, wie der deutsche Gegner sich ergeben soll. Der Handzettel verzichtete auf eine pathetische Stirb-oder-Ergib-Dich-Formel, erst recht angesichts möglicher zäher kämpfender Soldaten. Die PWD-Soldaten rechneten damit, dass der Satz „Ei sörrender!“ mittels ihres harmlos wirkenden Flugblatts eine Sickerwirkung entfaltete, sodass er verinnerlicht werden konnte. Anscheinend half dies. In Mülheim marschierten am 11. April 1945 die US-Amerikaner ein. Ab dem 18. Juni 1945 wurde Mülheim ein Teil der britischen Besatzungszone.
Eine Online-Präsentation des Stadtarchivs Mülheim an der Ruhr
Autor: Dr. Gregor Maximilian Weiermüller (Universität Duisburg-Essen, Historisches Institut, Abteilung für Landesgeschichte der Rhein-Maas-Region)