Lina Kann war die Tochter des Metzgers Hirsch Elias und seiner Ehefrau Sofia, geborene Kaufmann. Sie wurde am 7. Dezember 1865 in Eppinghofen (heute Mülheim an der Ruhr) geboren und heiratete am 5. September 1887 den Metzger Simon Kann. Auch er stammte aus einer Mülheimer Metzgerfamilie. Sein Vater war der Metzger Moses Kann, seine Mutter hieß Friederika, geborene Meier. Simon Kann wurde am 27. Mai 1857 in Mülheim an der Ruhr geboren. Dem Ehepaar gehörte das Haus Hindenburgstraße 73, in dem Simon Kann eine Metzgerei betrieb. Das Ehepaar hatte sieben Kinder (Jeannette, Selma, Hermann, Gustav, Max, Albert und Fritz). Sohn Hermann war 1892 im Alter von nur zehn Monaten gestorben, der Sohn Gustav 1894 im Alter von anderthalb Jahren. Ihre Grabsteine sind noch auf dem jüdischen Friedhof in Mülheim vorhanden. Simon Kann starb am 13. September 1934 in Mülheim an der Ruhr. Auch er wurde auf dem jüdischen Friedhof in Mülheim beigesetzt. Allerdings ist sein Grabstein nicht mehr lesbar. Meyer Kann, der am 29. Dezember 1860 in Mülheim geborene Bruder von Simon Kann, war der letzte Vorsitzender der Mülheimer Synagogengemeinde, von 1900 bis zu seinem Tod am 3. Mai 1943. Er ist in Mülheim auf dem jüdischen Friedhof beigesetzt.
Lina Kann gelang es im Herbst 1939 mit Hilfe ihrer Kinder, Max, Selma und Albert, Deutschland zu verlassen. Zuvor war auch sie schon mit ihrer Tochter und ihrem Enkel Hans-Josef in das sogenannte Judenhaus Bahnstraße 44 zwangseinquartiert worden. Sie erreichte am 6. November 1939 Buenos Aires. Dort starb sie am 29. August 1948. Das Familienfoto zeigt Lina Kann (zweite von links) in Argentinien circa Anfang der 40er Jahre. Rechts hinter ihr ihre Tochter Selma, in der Mitte ist Else, die Ehefrau von Albert und daneben deren Tochter Evelyn. Die drei Männer sind Max, Eduard (der Ehemann von Selma) und Albert.
Jeannette Gutmann, geborene Kann, war die Älteste von sieben Kindern des Ehepaares Simon und Lina Kann. Sie wurde am 26. Mai 1888 in Mülheim an der Ruhr geboren. Nach dem Besuch des Mülheimer Lyzeums von 1894 bis 1900 folgte ihre weitere Schulbildung an einem jüdischen Mädchenpensionat. Sie heiratete am 12. Januar 1921 in Mülheim an der Ruhr den Samt- und Seidenhändler Max Salomon Gutmann aus Krefeld, geboren am 8. Dezember 1877 und Sohn des Metzgers Josef Gutmann und seiner Frau Sophie, geborene Meyer. Nach ihrer Heirat zog Jeannette zu ihrem Mann nach Krefeld. Dort wohnte die Familie bis zu ihrem Umzug zurück nach Mülheim 1934 in der Marktstraße 297. In diesen Jahren war Jeannette Hausfrau und bekam drei Söhne: Hans-Josef, Fritz und Kurt. Am 11. August 1928 ereilte die Familie ein harter Schicksalsschlag. Max Salomon starb an den Folgen einer Lungenentzündung. Die Witwe lebte von einer kleinen Rente und verdiente sich durch das Sticken von Tischwäsche etwas zum Lebensunterhalt dazu. Es war Weltwirtschaftskrise und die Versorgung der Kinder war keine leichte Aufgabe. Deshalb zog Jeannette nach dem Tod ihres Vaters 1934 mit ihren drei Söhnen, Hans-Josef, Fritz und Kurt zur Mutter nach Mülheim zurück in ihr Elternhaus in die Hindenburgstraße 73.
Ihr ältester Sohn, Hans-Josef Gutmann, geboren am 18. August 1922 in Krefeld, besuchte von 1928 bis 1934 die jüdische Volksschule in Krefeld. In Mülheim ging er von 1934 bis 1936 auf das Realgymnasium, von wo er nach 1936 verwiesen wurde, weil er Jude war. Er begann dann eine Lehre als Elektriker in einer Duisburger Firma, deren Besitzer ebenfalls jüdischen Glaubens war. Das Unternehmen wurde 1939 in Folge der Pogromnacht geschlossen. Vom Arbeitsamt wurde der damals 16-jährige zur Arbeit auf dem Bau als „Hucker“ verpflichtet. Er musste dort für die Maurer Steine mit Hilfe einer Hucke das Baugerüst hoch transportieren. Diese Arbeit verrichtete er bis zum Frühjahr 1942.
Fritz Gutmann, geboren am 11. März 1924, wurde frühzeitig die Möglichkeit genommen in Deutschland sein Abitur zu machen. Noch im Jahr 1934 schickte ihn seine Mutter Jeannette durch Vermittlung der jüdischen Gemeinde Krefeld in das jüdisch-orthodoxe Getrud-Jacobsen Waisenhaus in Glasgow in Schottland. Fritz war damals gerade einmal zehn Jahre alt. Frank Goodman (Fritz Gutmann) studierte später Mathematik und Physik und leitete dann die Mathematikabteilung des Colleges in Street, Somerset in England. Er hat seine deutsch-jüdische Herkunft auch gegenüber seinen Freunden immer verschwiegen. Er verstarb im September 2002.
Jeannettes dritter Sohn, Kurt Gutmann, geboren am 18. Februar 1927, besuchte nach 1934 die evangelische Volksschule, wo er unter antisemitischen Angriffen sowohl von Seiten der Lehrer als auch des Schuldirektors und von Schülern zu leiden hatte. Sehr oft wurde er in der Schule von Lehrern und, insbesondere auf dem Nachhauseweg, von seinen Mitschülern geschlagen. Nach der Pogromnacht im November 1938 versuchte Jeannette Gutmann ihre beiden Kinder Hans-Josef und Kurt in einem Kindertransport nach Holland unterzubringen, was ihr aber misslang, da ihr die finanziellen Mittel fehlten. Erst im Juni 1939 konnte sie einen Platz für Kurt in einem Kindertransport nach Schottland bekommen. Für sie und ihren Sohn Hans-Josef gab es keine Hoffnung, ins Ausland zu entkommen. Kurt meldete sich 1944 als 17-Jähriger freiwillig zur britischen Armee und kehrte als Soldat 1946 nach Mülheim an der Ruhr zurück. Da er keine engen Familienangehörigen mehr vorfand, zog er nach der Entlassung aus der Armee nach Ostberlin, wo er als Dolmetscher arbeitete, eine Familie gründete und bis zu seinem Tod im Jahr 2017 lebte. Er widmete sein ganzes Leben dem Kampf gegen Faschismus und Rassismus.
Jeannette und ihr Sohn Hans-Josef Gutmann wurden am 6. September 1939 aus dem Haus der Mutter zusammen mit der Großmutter, Lina Kann, vertrieben und mussten in ein sogenanntes Judenhaus in der Bahnstraße 44 einziehen. Im April 1942 erhielt Jeannette Gutmann die Aufforderung, sich für den Transport in den Osten bereitzuhalten. Eigentlich stand ihr Sohn Hans-Josef nicht mit auf der Deportationsliste. Er setzte aber durch, mit seiner Mutter auf Transport gehen zu können. Beide wurden mit dem Transport „DA 52“ vom Bahnhof Düsseldorf-Derendorf, am 22. April 1942, nach Izbica im damaligen Distrikt Lublin deportiert. In Izbica befand sich zu dieser Zeit ein sogenanntes „Durchgangsghetto“, in das verschiedene Transporte mit tausenden jüdischen Menschen aus dem Deutschen Reich und Tschechien gebracht wurden. Wie der weitere Weg von Jeannette Gutmann und ihrem Sohn Hans-Josef war, lässt sich nicht mehr sagen. Im Ghetto von Izbica verliert sich ihre Spur. Viele Menschen starben in der Zeit des Ghettos an den unmenschlichen Bedingungen, denen sie hier ausgesetzt waren oder wurden einfach erschossen. Immer wieder gab es Transporte in die deutschen Vernichtungslager in Belzec und auch nach Sobibor.
Kurt Gutmann hat sehr viele Jahre recherchiert, was mit seiner Mutter und seinem Bruder passiert ist. Er ging von ihrer Ermordung in Sobibor aus und konnte erst mehr als 60 Jahre nach ihrem Tod einen Stein in Sobibor aufstellen lassen. Es war ihm eine Herzensangelegenheit, einen Ort zu haben wo sich Menschen an seine Mutter und seinen Bruder erinnern.
Jeannette Gutmann und ihr Sohn Hans-Josef wurden laut Beschluss des Amtsgerichts Mülheim an der Ruhr vom 17. Januar 1950 (unter dem Aktenzeichen 6. II. 251 / 1949 T.) für tot erklärt. Als Zeitpunkt des Todes wurde der 8. Mai 1945, 24 Uhr festgelegt.
Von Jeannetts Geschwistern ist bekannt, dass Albert, Fritz und Max die Städtische Realschule besuchten. Ihre Schwester Selma ging mit ihr auf das Mülheimer Lyzeum. Sie heiratete 1934 und zog nach Essen-Rüttenscheid. Max Kann wanderte bereits 1934 nach Buenos Aires aus. Er starb dort 1945. Sein Grab (Maseimo Kann) befindet sich auf dem jüdischen Friedhof in Buenos Aires. Selma mit ihrem Mann Eduard und Albert mit seiner Frau Else und Tochter Evelyn sind ebenfalls die Flucht nach Buenos Aires gelungen. 1939 – buchstäblich im letzten Moment – gelang es ihnen auch ihre Mutter Lina Kann nach Argentinien zu holen. Friedrich (Fritz) Kann heiratete 1927 die aus Düsseldorf stammende Christine Caroline Kremer und hatte mit ihr zwei Söhne, Horst und Albert. Diese Ehe wurde 1941 geschieden. Ob dies unter dem Druck der Nürnberger Rassegesetze erfolgte – seine Ehefrau war evangelisch – oder ob die Ehe zerbrach, bleibt unbeantwortet. Nach der Scheidung kehrte Fritz nach Mülheim an der Ruhr in seine Geburtsstadt zurück. Er wohnte aber nicht bei seiner Schwester Jeannette, sondern musste in das Judenhaus Scharpenberg 42 einziehen. Von dort wurde er zusammen mit seinem Sohn Denny Freund und dessen Mutter Lieselotte Freund am 22. April 1942 abgeholt, nach Düsseldorf-Derendorf gebracht und von dort im selben Transport wie seine Schwester und sein Neffe nach Izbica deportiert. Sein Sohn war zu diesem Zeitpunkt gerade einmal einen Monat alt. Fritz Kann wurde am 23. Oktober 1957 durch den rechtskräftigen Beschluss des Amtsgerichts Mülheim an der Ruhr (6. II. 27/57 T) ab dem 31. Dezember 1945 für tot erklärt.
Verlegeort Friedrich-Ebert-Straße 73 [das Haus Hindenburgstraße 73, heute Friedrich-Ebert-Straße war ihr letzter freigewählte Wohnsitz vor ihrer Deportation beziehungsweise Flucht]
Verlegedatum 4. Mai 2022
Verfasst von Elke Tischer, geborene Gutmann, Hans-Joachim Gutmann, Annett Fercho