1. Mülheimer Theatertage „Stücke“
1975 fand in Mülheim zusammen mit dem 1974 gegründeten Wuppertaler Sekretariat für gemeinsame Kulturarbeit eine „Woche des Studio-Theaters“ statt. Das Fazit dieser Veranstaltung war: die Zeit der Experimental-Studios war vorbei. Wie kam es vor diesem Hintergrund ein Jahr später dazu, dass der Kulturausschuss beschloss, jedes Jahr im Mai und Juni Mülheimer Theatertage mit einem Preisgeld von 10.000 DM auszuloben?
Diesem Beschluss voraus gegangen war ein Erfahrungsaustausch von Kultur- und Theaterexperten am 19. Januar 1976. Mit dabei waren auch Dr. Karl Richter vom Wuppertaler Sekretariat für gemeinsame Kulturarbeit und der Mülheimer Kulturdezernent Helmut Meyer. Dr. Henning Rischbieter (1927-2013), Theaterwissenschaftler und -kritiker, Professor für Theaterwissenschaft an der Freien Universität in Berlin und Mitglied der Berliner Akademie der Künste, machte sich stark für eine Bündelung von Aufführungen deutschsprachiger Autoren, deren Stücke nur vereinzelt auf die Bühnen kämen. Seine Idee war, ein Theaterfestival zu veranstalten, dass in jedem Jahr die jeweils besten Theaterstücke der deutschsprachigen Autoren und Autorinnen auswählt und auf die Bühne holt, die in der laufenden Spielzeit zur Uraufführung gekommen waren. Den Kulturpolitikern ging es vor allem um mehr Aufmerksamkeit für das deutschsprachige Gegenwartsdrama. Nicht die Inszenierung, sondern die Qualität der geschriebenen neuen deutschen Stücke, die Texte sollten bewertet werden. Wichtiges Ergebnis war neben dem Preis für das beste Stück, dass dieses Festival vor Mülheimer Publikum stattfinden sollte. Da es Theateraufführungen nur als Gastspiele in der Stadthalle gab - denn das „Theater an der Ruhr“ am Raffelberg von Roberto Ciulli und Helmut Schäfer war noch nicht gegründet – galt es als Bereicherung des eigenen Spielplans. Nachdem der Kulturausschuss und der Rat grünes Licht für die Theatertage gegeben hatten, war die Durchführung der ersten „Stücke“ durch das Kulturamt nur wenige Monate später eine organisatorische Meisterleistung.
Seit damals entscheidet zunächst ein Auswahlgremium, welche Stücke eingeladen werden. Eine unabhängige Jury aus Theaterschaffenden, Kritikern und Dramatikern diskutiert in öffentlicher Sitzung über die Vergabe des Preises. Mülheim rückte mit seinen Theatertagen in das Blickfeld einer an Gegenwartstheater und seinen modernen Ausdrucksformen interessierten Öffentlichkeit. Seit 1976 bewarben sich im Rahmen der Theatertage „Stücke“ um den Mülheimer Dramatiker-Preis, der inzwischen auf 15.000 Euro aufgestockt wurde, namhafte Autoren wie Ernst Jandl, George Tabori, Peter Handke, René Pollesch oder die Literatur-Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek, um nur einige zu nennen. Der erste Dramatikerpreis 1976 ging übrigens an Franz Xaver Kroetz für „Das Nest“.
Seit 2007 finden in Mülheim auch die „KinderStücke“ statt. Als Wettbewerb mit Vergabe des „KinderStücke“-Preises in Höhe von 10.000 Euro gibt es sie aber erst seit 2010.
Die Kulturpolitiker von 1976 waren mutig. War man doch damals davon ausgegangen, dass die „Stücke“ nur erfolgreich sein werden, wenn es nicht ein einmaliges Unternehmen bleibt und den „Stücken 76“ weitere folgen werden. Die Konzentration auf den Text macht das Mülheimer Festival einzigartig. Nicht zuletzt erhielt es für seine Konzeption 1987 den ITI-Preis des Internationalen Theaterinstituts e. V. der UNESCO.
(Fe)