Sorry, you need to enable JavaScript to visit this website.
Direkt zum Inhalt

Julia und Gustav Kaufmann

Gustav Kaufmann - geboren am 30. August 1884 in Mülheim an der Ruhr - ist erstes von vier Kindern der Eheleute Arno Kaufmann (Metzgermeister/Musiker) und seiner Ehefrau Johanne, geborene Süskind. Julia Kaufmann, geborene Seligmann – geboren am 4. September 1873 in Kettig, Weißenthurm, Landkreis Coblenz - ist Tochter des Händlers Levi Seligmann und seiner Ehefrau Gertrude, geborene Mayer. Julia und Gustav Kaufmann heiraten am 1. März 1912 in Mülheim an der Ruhr. Am 22. November 1912 wird ihr einziges Kind Leo Hans geboren.

Als Todesdatum ist der Vermerk 31. Dezember 1945, 24 Uhr auf der Heiratskartei eingetragen. Durch den rechtskräftigen Beschluss des Amtsgerichts Mülheim vom 9. Juni 1953 (6 II 153/52) sind beide für tot erklärt worden. Letzter frei gewählter Wohnort ist die Vorsterstraße 5.

27. Dezember 1941 Einzug ins Judenhaus Köhle 16 
20. April 1942 - Eintrag auf der Einwohnermeldekarte: unbekannte Abwanderung 
22. April 1942 - Deportation mit dem Zug DA 52 nach Izbica/Polen   


Familie Kaufmann in Mülheim 

Gustav Kaufmann entstammte einer der Familien Kaufmann jüdischen Glaubens, die nachweislich seit Ende des 18. Jahrhunderts in Mülheim ansässig waren. Sein Urgroßvater Gottschalk Kaufmann (Metzger) lebte mit seiner Frau Friederike, geborene Meyer (1796 -1870) bereits in Mülheim. Ihre zehn Kinder wurden ebenda geboren. 
Sein Großvater Gottschalk (1817-1903) war Musiklehrer und mit Netta (Jetta) geborene Meier verheiratet. Das Ehepaar hatte elf Kinder. Gustavs Vater Arno (1858-1928) war das achte Kind. Er war Metzgermeister, arbeitete aber wohl auch als Musiker. Sein Bruder Gottschalk Kaufmann (1848-1903) war Vater des bekannten Mülheimer Künstlers Arthur Kaufmann (1888-1971 Brasilien). Gustav Kaufmann war gelernter Sattler. 

Seit dem 17. Jh. konnten sich Juden in Mülheim niederlassen. 1757 gab es 18 jüdische Familien in der Stadt, damals wohl noch Schutzjuden, die dem Landesherrn Abgaben entrichten mussten. Ihre Berufswahl war begrenzt. Sie durften Metzger, Händler unter anderem für Fell, Vieh und Altwaren werden oder als Pfandleiher tätig sein. Erst 1847 wurden die rheinischen Juden zu Bürgern mit Bürgerrechten, 1871 mit der Reichsgründung galt dies für alle Juden in Deutschland. Diese rechtlichen Grundlagen und die Industrialisierung ließen auch die jüdischen Familien teilhaben am Wandel der Region, auch an dem aufstrebenden Bürgertum in Mülheim. Ein Betraum der jüdischen Gemeinde ist im 18. Jahrhundert belegt. Eine erste Synagoge wurde 1794 am ehemaligen Notweg gebaut. 

Zwischen 1730 und 1740 wurde der jüdische Friedhof an der Gracht angelegt. Etwa 300 Grabsteine sind noch erhalten, so der von Gustavs Urgroßmutter Friederike Kaufmann, von den Großeltern Gottschalk und Netta Kaufmann sowie von seinem Vater Arno.


Das Leben von Gustav und Julia Kaufmann, geborene Seligmann, in Mülheim an der Ruhr

Julia Seligmann war Haushälterin, als sie 1912 den elf Jahre jüngeren Gustav Kaufmann heiratete. Sie wohnten in der Oberstraße 32. Gustav arbeitete laut Heiratsurkunde der beiden als Sortierer. Am 22. November 1912 wird ihr einziges Kind Leo Hans geboren.
Das Jahr 1914 brachte für die junge Familie wie für rund 20 000 Soldaten aus Mülheim nichts Gutes. Gustav wurde Soldat und kehrte zwei Mal verwundet aus dem Krieg zurück. Aus Briefen ihres Sohnes Leo Hans, zwischen 1982 und 1997 an Jacques Marx, damaliger Vorsitzender der Jüdischen Kultusgemeinde Mülheim / Oberhausen, an Oberbürgermeisterin Eleonore Güllenstern, Pfarrer Gerhard Bennertz und den Unterlagen zur Mülheimer Jüdischen Gemeinde lässt sich ein Bild über das Leben der Familie bis zu ihrer Deportation entwickeln. 

Julia Kaufmann arbeitete vor und auch während des Krieges als Köchin für diverse Warenhäuser, 1919 zuletzt für das Warenhaus Alsberg in Duisburg Ruhrort. Auch in Mülheim gab es eine Niederlassung. Gustav Kaufmann nahm nach dem Krieg eine Arbeit als Lagerarbeiter bei S.G. Kaufmann Fellhandel in der Wiesenstraße an. 1919 wechselte Julia Kaufmann die Stelle. Sie wurde Köchin und Verwalterin im jüdischen Gemeindehaus an der Löhstraße 53. Die Familie zog in das mehrstöckige Gebäude in die Innenstadt. Dieses Haus war von der Gemeinde seit dem ersten Weltkrieg als Gemeindehaus eingerichtet worden. 


Die Jüdische Gemeinde war mächtig gewachsen. (1808: 185, 1863: 493, 1895: 543, 1900: 643). 1907 war die neue große Synagoge am Viktoriaplatz eingeweiht worden. Grund für das Wachstum waren zum einen Pogrome ab 1881 in Russland und anderen osteuropäischen Ländern. Der Wunsch, in Deutschland als freie Bürger leben und studieren zu dürfen, führte Juden ins Rheinland und so auch nach Mülheim an der Ruhr unter anderen die Familie Brender. 
Darüber hinaus wurden im ersten Weltkrieg in den besetzten Gebieten von der deutschen Heeresleitung Arbeitskräfte angeworben, die durch den Krieg vor allem in der Industrie fehlten. 

Juden aus dem Osten taten sich mit der liberalen Jüdischen Gemeinde in Mülheim schwer. Unter ihrem Dachverband war - wie in anderen Städten - auch in Mülheim nach dem ersten Weltkrieg ein „Ostjüdischer Kulturverein“ gegründet worden. Ziel war die Integration in das gesellschaftliche Leben aber auch die Pflege der Traditionen. Vorsitzender war Emanuel Brender. Dieser Verein traf sich jeden Mittwoch im Gemeindehaus Löhstraße 53.


Julia Kaufmann kochte dort koscher, bewirtete die Menschen und kümmerte sich um das Gemeindehaus. In den unterschiedlichen Gesellschaftsräumen spielte man Schach und Karten, diskutierte und feierte. Im großen Saal war Platz für Feste wie Hochzeiten oder Bar Mizwa. Auch Leo Hans feierte sein Bar Mizwa Fest dort. Für die Jugend der Gemeinde war das Haus Treffpunkt in der Freizeit. Zwischen 1921 und 1924 war auch ein französischer Offizier nebst Burschen im Gemeindehaus einquartiert. Leo Hans erinnerte sich an die Schokolade, die er von diesem Mann bekam. Auch lebten wohnungslose jüdische Familien übergangsweise dort. Neben der Arbeit bei S.G. Kaufmann half auch Gustav Kaufmann nebst Sohn Leo Hans im Gemeindehaus. „Ich verbrachte dort meine Jugend“, schreibt Leo Hans und „war befreundet mit den drei Brender Kindern“.

1927 änderte sich all dies. Gustav Kaufmann wurde bei S.G. Kaufmann Fellhandel entlassen. Leo Hans schreibt von Fälschungen als Grund. Näheres ergibt sich nicht. Julia Kaufmann gab Ende 1927 ihre Arbeit im Gemeindehaus auf. Die Familie zog 1928 zur Hingbergstraße 24. Über die Zeit bis 1933 beziehungsweise bis 1938 schreibt Leo Hans nichts in seinen Briefen. Er machte 1933 Abitur am Staatlichen Gymnasium, das er seit 1923 besuchte. Sein Freund Karl Brender wurde vor dem Abschluss 1933 als Jude von dieser Schule verwiesen. Leo Hans ging zunächst zum Studium nach Prag. 1934 kehrte er nach Mülheim / Hingbergstraße 24 zu seinen Eltern zurück. Er konnte wegen der Devisensperre sein Studium in Prag nicht finanzieren. Er nahm eine Lehrstelle beim Möbelgroßhandel und Fabrik Rosendahl und Bachrach AG in Essen Kray an. Als Beruf steht in der Einwohnermeldekarte Korrespondent.

 Am 25. August 1937 zog die Familie zur Hingbergstraße 50. Am 10. November 1938 wurde Leo Hans ebenso wie sein Vater Gustav verhaftet und nach einer Woche im Polizeigefängnis an der Von Bock Straße nach Dachau gebracht. Am 21. Dezember wurden beide entlassen. Sie kehrten nach Mülheim zurück. Leo Hans heiratete am 3. Februar 1939 in Essen und emigrierte am 11. Mai 1939 in die die USA. Ob der Cousin seines Vaters, der Künstler Arthur Kaufmann, behilflich war, ist nicht bekannt. Arthur Kaufmann war als Lehrer an der Kunstakademie in Düsseldorf 1933 entlassen worden. Seine Kunst galt zudem als entartet. Über die Niederlande war er 1937 endgültig in die USA emigriert.

Julia und Gustav Kaufmann blieben in Mülheim

Ab 1938 hatte die Planung der räumlichen Trennung von Juden und Nichtjuden begonnen. Durch das „Gesetz über das Mietverhältnis mit Juden“ vom 30. April 1939 und dem Durchführungserlass vom 4. Mai 1939 ermächtigte die Reichsregierung die lokalen Behörden auch zwangsweise Mietverhältnisse mit Juden zu kündigen und sie in Häusern von möglichst jüdischen Besitzern unterzubringen.

Auch Julia und Gustav Kaufmann waren höchstwahrscheinlich davon betroffen. Zwischen 1937 und 1941 findet sich auf der Einwohnermeldekarte der Eheleute der Eintrag - ihre letzte frei gewählte Unterkunft - „Vorsterstr. 5“ ohne Datierung. Das Haus gehörte Salomon Gustav [S.G.] Kaufmann, der 1939 nach Rotterdam gegangen war. Von der Verwaltung wurden in Mülheim neun Judenhäuser ausgewiesen. Das Haus an der Vorsterstraße 5 gehörte nicht dazu. Am 27.12.1941 wurden Julia und Gustav Kaufmann in das Judenhaus Köhle 16 (heute Forum) einquartiert. Von dort machten sie sich am 20. April 1942 zusammen mit 58 anderen Mülheimer Bürgern auf den Weg nach Essen zur Sammelstelle für den Zug DA 52. 


Die Judenhäuser waren die letzte wohnortnahe Station vor der endgültigen Deportation. Ziel der Behörden war es, eine bessere Kontrolle über noch in der Stadt lebende jüdische Bürger zu haben und einen gut organisierten Abtransport sicher zu stellen. Wurden Räume leer, quartierte man die nächsten ein, solange, bis der Ort „judenfrei“ war. Im November1943 war dies in Mülheim der Fall.

DA 52 (DA(vids)züge) – der Zug nach Izbica zur Vernichtung 22. April 1942 ab Düsseldorf

Gleich zu Kriegsbeginn wurden vor allem die männlichen Juden in den Ostgebieten drangsaliert, ermordet, verschleppt, in Ghettos gepfercht. Zur Endlösung gehörte es aber auch, die in Europa lebenden Juden zur Vernichtung nach Osten zu schaffen. Auf der Wannseekonferenz am 20. Januar1942 ging es um eine „Endlösung“ der Judenfrage. (Heydrich). Man hatte sich auf Führungsebene über die Form der Abschiebung der Juden aus Europa gen Osten geeinigt. 

Unter dem Tarnnamen „Aktion Reinhardt“ wurde die Vernichtung in drei Lagern in Polen in Gang gesetzt. Bereits ab Ende Oktober1941 war unter der Zentralbauleitung der SS mit dem Bau der Vernichtungslager Belzec, Sobibór und Treblinka mit eigenen Gaskammern begonnen worden. Betreiber waren die SS Totenkopfverbände. Im Frühjahr 1942 wurden zehn polnische Dörfer mit einem Schtetl (Stadtviertel mit jüdischen Einwohnern) im Raum Lublin an der Bahnstrecke zu den drei Vernichtungslagern als Transitghettos festgelegt. Der Ort Izbica südöstlich von Lublin war eines dieser Transitghettos. Von dort gingen die Transporte zwischen März und Oktober 1942 in die Vernichtungslager nach Belzec und Sobibór. 1,3 Millionen Juden und 50.000 Roma wurden dort vergast und verbrannt.

Die erste Deportation aus dem Rheinland in diesen Distrikt fand am 22. April 1942 statt. 

Der DA 52 war ein Sonderzug vom Bahnhof Düsseldorf-Derendorf. Dort befand sich ein Arbeitslager für Juden und ein Ausbildungslager der SS. Die 60 Juden aus Mülheim, zu denen Julia und Gustav Kaufmann gehörten und die 354 Essener Juden sammelten sich am 20. oder früh morgens am 21. April im Barackenlager Holbeckshof in Essen Steele oder alternativ im Betsaal des Essener Gemeindehauses Hindenburgstraße. Der Sonderzug DA 152 – fünf bis sieben Personenwagen und zwei Güterwagen - wurde von der Reichsbahndirektion Essen eingesetzt und fuhr vom Hauptbahnhof direkt nach Derendorf. 

Am Mittwoch den 22. April 1942, 11 Uhr 6 setzte sich dann der DA 52 mit 941 Menschen - 387 männlich und 554 weiblich- davon 137 aus Duisburg, 50 aus Düsseldorf, 5 aus Kettwig, 124 aus Krefeld, 75 aus Mönchengladbach, 25 aus Oberhausen, 60 aus Wuppertal und weiteren Orten des Rheinlandes nach Izbica in Bewegung. Am 24. April, nach 42 stündiger Fahrt, erreichte der Zug sein Ziel. Ursprünglicher Zielort war zunächst das Zwangsarbeiterlager Trawniki ebenfalls bei Lublin angegeben. Dies wurde jedoch kurz vor der Abfahrt in Izbica geändert. Im Buch von Steffen Hänschen „Das Transitlager Izbica im System des Holocaust“ (erschienen im Februar 2018) heißt es: „Izbica war schlimmer als die Hölle“.

Der polnischer Historiker Robert Kuwalek (Autor des Buches „Das kurze Leben“) schreibt zur Geschichte des Ortes:
„Seit jeher war die Ortschaft mittellos und primitiv gewesen, bewohnt vor allem von verarmten Juden. Die meisten Straßen waren nicht gepflastert [...]. Die Häuser waren ohne sanitäre Anlagen – im ganzen Ort gab es nur zwei öffentliche Toiletten [...]. Die Wohnsituation war dramatisch. Die deportierten Juden lebten mit den Einheimischen zusammen. Alle öffentlichen Gebäude, die zur jüdischen Gemeinde gehörten wurden in Unterkünfte für die sogenannten Umsiedler verwandelt [...]. Anfangs kamen die ausländischen Juden mit ihrem vollständigen Gepäck in Izbica an und machten auf die Einheimischen einen sehr wohlhabenden Eindruck [...]. Seit Mitte April 1942 jedoch hielten die deutschen Kommandanten die Transporte in Lublin an. Dort nahmen sie den Juden das Gepäck ab und beraubten sie ihrer gesamten Habe. Gleichzeitig führten SS-Männer aus dem Konzentrationslager Majdanek Selektionen durch, wobei sie junge Männer für das Lager aussuchten.“ 

Julia und Gustav Kaufmann waren wie die meisten anderen aus dem Zug DA 52 zu alt oder wie Frauen mit Kindern nicht auszusortieren. Für ihren Unterhalt mussten die Menschen selber sorgen. Die Brotration für nicht Arbeitende betrug 50 Gramm pro Tag. Konflikte zwischen den Einquartierten aus Deutschland, Österreich und Tschechien untereinander und mit der polnischen Bevölkerung waren nicht selten. Es gab seitens der SS Hetzjagden, Razzien, Erschießungen im und rund um diesen Ort. Seuchen wie eine Typhusepidemie und der Hunger rafften viele Menschen schon vor ihrem Weitertransport nach Belzec oder Sobibór dahin. Zwanzig bis dreißig Menschen, oft bis zum Skelett abgemagert, starben täglich in diesem Ghetto. Von März bis Juni 1942 wurden 17.000 ausländische Juden nach Izbica transportiert und von dort nach Wochen manchmal Monaten in die Vernichtungslager Belzec und Sobibór gebracht. Izbica wurde am 28. April 1943 als Durchgangghetto geschlossen. 

Zur Frage, warum die Deportierten vor der Vernichtung in Belzec, Sobibór und Treblinka im „Transit“ manchmal Monate warten mussten, gibt Robert Kuwalek folgende hypothetische Antworten: 
1. Propaganda -  Die Nationalsozialisten wollten den noch in Deutschland etc. verbliebenen Juden demonstrieren, dass sie wirklich in den Osten „umgesiedelt“ würden, daher die Möglichkeit des Versendens von Postkarten und Briefen.
2. Die oben genannten Vernichtungslager hatten in dieser Zeit noch nicht ausreichende Kapazitäten, um so viele Transporte aufzunehmen. Dazu aus Aktion Reinhardt: 
Die drei Lager waren nicht auf die geforderte Kapazität ausgelegt und mussten kurzfristig erweitert werden. Belzec ging ab März 1942, Sobibór ab Mai 1942 und Treblinka ab Juli 1942 in Betrieb. Anfangs gab es Probleme mit den Gaskammern in Belzec. Stahlflaschen für das eingesetzte Kohlenmonoxid waren unzureichend. Später wurden sie durch Verbrennungsmotoren ersetzt. 


Die Spur von Julia und Gustav Kaufmann verliert sich in Izbica. Sie stehen auf der Transportliste von DA 52. Am 9. Juni 1953 wurden sie durch den rechtskräftigen Beschluss des Amtsgerichts Mülheim vom 9. Juni 1953 (6 II 153/52) beide für tot erklärt.

 

Verlegeort Theodor-Heuss-Platz, Eingang Stadthalle [früher Vorsterstraße 5]

Verlegedatum 24. Mai 2019

Verfasst von C. Squarr-Tittgen