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Katharina Sandmann

Dokumentation erstellt von Ingvild Mathe-Anglas Rodriguez, im Juli 2018
 

„Warum soll ich mich denn hier fürchten?“

(Eintrag in der Krankenakte der Heil- und Pflegeanstalt Bedburg-Hau vom 3. August 1936) 

Dies ist die Geschichte meiner Tante zweiten Grades Katharina Sandmann. Ich habe sie nie kennengelernt. Sie wurde im Jahr 1940 in Grafeneck ermordet.

Wie das so ist: in den Unterlagen der Familie schlummern Briefe, die man „irgendwann mal“ durchsehen will. Manchmal bergen Unterlagen Dinge, die man früher hätte wissen müssen, um noch eine Chance zu haben, die Altvorderen zu fragen: „Wie war das damals?“. Auch in diesem Fall. All jene sind tot, die vielleicht noch hätten Auskunft geben können zu den Tatsachen, die totgeschwiegen oder als belastende Ahnung beiseitegeschoben wurden.

Wir als Kinder der Kriegsgeneration fragten in den 1960er/-70er-Jahren vermutlich alle irgendwann einmal nach, wie das denn damals war. Wir wollten wissen, welche Schuld unsere direkten Verwandten vielleicht auf sich geladen hatten. Die Antworten waren spärlich. Vor Jahren äußerte sich meine Mutter in einem Gespräch über die Vergangenheit ihres Vaters im „Dritten Reich“ unter anderem dazu, dass es da eine Verwandte gegeben habe, die unter mysteriösen Umständen umgekommen sei. Deren Eltern hätten ein Schreiben bekommen, dass sie an einer Krankheit gestorben sei. Näheres sei ihr unbekannt. Sie wisse nur, dass ihre Cousine „alle Schaltjahre mal“ einen epileptischen Anfall gehabt habe. 

Ein Ordner, den ich im Nachlass meiner Mutter fand, enthält alle Dokumente, die minutiös den Rechtsstreit um die Entnazifizierung meines Großvaters nachzeichnen. Katharina wird dort erwähnt, er enthält jedoch keinerlei Hinweise auf eine eventuelle Epilepsie, wohl aber Hinweise auf die Tötung Katharinas im April 1940. Das Dokument, das meine Aufmerksamkeit erregte, ist die eidesstattliche Erklärung meiner Großmutter Adeline Heyer vom 24. Januar 1947, die meinen Großvater entlasten sollte. Darin taucht Katharina auf:

Zu sehen ist ein mit einer Schreibmaschine beschriebenes blassgrünes Blatt.

Von Epilepsie im Falle der Katharina Sandmann liest man darin nichts. In der Krankenakte aus der Heil- und Pflegeanstalt Bedburg-Hau wird Schizophrenie als Diagnose gestellt. Es könnte aber auch sein, dass Katharina 1936 in einen psychischen Ausnahmezustand kam und in eine tiefe Depression stürzte, weil nach und nach ihr persönliches Umfeld wegbrach. Geliebte Menschen starben in kurzer Folge: am 3. Oktober 1930 ihre Großmutter Louise Henriette Wolff, geborene Schwennecke, am 10. Februar 1931 ihre Mutter Frieda Sandmann, kurz darauf ihre Tante, am 6. April 1936 schließlich ihr Vater Reinhold.


Chronologie ihrer Geschichte 

Am 29. Mai 1900 wurde Katharina in ihrem Elternhaus in der Gartenstraße 7 in Mülheim an der Ruhr geboren. Ihr Vater Reinhold Sandmann arbeitete als Fotograf in seinem Atelier Eppinghofer Straße 80. Ihre Mutter Frieda Sandmann arbeitete als Hausfrau und gebar später noch drei weitere Kinder: Anita, Bernhard und Herbert.
 

Ausbildung Katharinas

Ab 1906 besuchte „Käthe“ das örtliche Lyzeum, die Luisenschule, die sie an Ostern 1916 mit Abschluss verließ. Aus dem Fragebogen des Gesundheitsamtes vom 1. September 1938 geht hervor, dass sie ein gutmütiges, schüchternes Mädchen gewesen sei. Sie habe „gut gelernt“. Danach besuchte sie eine Handelsschule.

Bis zu ihrer Einweisung war sie etwa zehn Jahre in der Verwaltung der Stadt Mülheim an der Ruhr beschäftigt, unter anderem als Bürogehilfin im Gesundheitsamt. Am 5. Januar 1932 zieht sie in die Straße Am Lindenhof 76, um kurz darauf, am 20. Mai, in die Ulmenalle 80 und 1935 in die Honigsberger Straße 38 zu ziehen. Näheres dazu ist leider nicht bekannt. Dreieinhalb Monate vor ihrer Einweisung starb ihr Vater. Vielleicht der letzte Trigger für ihre Erkrankung. Sie soll danach immer „wunderlicher“ geworden sein, Wahnvorstellungen gehabt, sich von Juden verfolgt gefühlt, ihre Körperpflege vernachlässigt, ja, Selbstmordgedanken geäußert haben. Sie wurde am 31. Juli 1936 von der Polizei in die Heilanstalt Bedburg-Hau eingewiesen.
 

Katharina, die „Ballastexistenz“

Katharina Sandmann war für die Nazis „unwertes Leben“,  nach damaligem Sprachgebrauch eine „Ballastexistenz“, der sozusagen ein Gefallen getan wurde, als man sie vergaste. Unter aerzteblatt.de ist über die „Gnadentoten“ im Dritten Reich zu lesen:
„Zurzeit gehen die Experten davon aus, dass im Deutschen Reich circa 160 000, im deutschen Herrschaftsgebiet insgesamt mindestens zwischen 250 000 und 300 000 Opfer der NS-Euthanasie zu beklagen sind. ….“
Der Bevölkerung wurden die „Ballastexistenzen“ auf Plakaten und mit Anzeigen vor Augen geführt. Im Mathematik-Unterricht wurde mit Dreisätzen gearbeitet wie: „Ein Epileptiker kostet im Jahr x Reichsmark, wieviel kostet er die Volksgemeinschaft in fünf Jahren“. 

Die Tötungen hatten nicht nur den Hintergrund, dass man die deutsche Rasse rein, gesund und ohne Makel halten wollte. Wirtschaftliche Gründe waren simple, aber schlagende Argumente: „Die Anstalten, die der Idiotenpflege dienen, werden anderen Zwecken entzogen; soweit es sich um Privatanstalten handelt, muß die Verzinsung berechnet werden; ein Pflegepersonal von vielen tausend Köpfen wird für diese gänzlich unfruchtbare Aufgabe festgelegt und fordernder Arbeit entzogen; es ist eine peinliche Vorstellung, daß ganze Generationen von Pflegern neben diesen leeren Menschhülsen dahinaltern, von denen nicht wenige 70 Jahre und älter werden. Die Frage, ob der für diese Kategorien von Ballastexistenzen notwendige Aufwand nach allen Richtungen hin gerechtfertigt sei, war in den verflossenen Zeiten des Wohlstandes nicht dringend; jetzt ist es anders geworden, und wir müssen uns ernstlich mit ihr beschäftigen. [...]"
(Quelle: Karl Binding/Alfred Hoche, Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form, 2. Auflage Leipzig 1922, S. 54f.)

 

Die Heil- und Pflegeanstalt Bedburg-Hau

Eine der Anstalten, die der „Idiotenpflege“ dienten, war Bedburg-Hau, wohin Katharina eingewiesen wurde. Gelegen am Niederrhein, nahe Kleve. Im Buch „EUTHANASIE“ IM DRITTEN REICH bezeichnet Ernst Klee diese als „Mammutpsychiatrie mit 3.575 Betten“. Diese Heil- und Pflegeanstalt war für damalige Verhältnisse sehr modern, die Patienten und Patientinnen zum großen Teil in pavillonartigen Häusern untergebracht, die sich auf dem Gelände zwischen dichtem Baumbestand verteilt befanden. Bereits vor Katharinas Aufnahme am 31. Juli 1936 - Diagnose Schizophrenie - befolgte die Anstalt in vorauseilendem Gehorsam die Vorgaben der immer stärker werdenden Rassenideologie der Nazis und deren erbbiologische Logik: „Im Jahresbericht der PHP Bedburg-Hau 1934/35 hieß es: Die Führung der Krankenblätter unter erbbiologischen Gesichtspunkten wurde den Abteilungsärzten zur Pflicht gemacht, der sie sich mit Eifer und Interesse unterzogen. Die Anstaltskrankenblätter dienen als Unterlage für die Rechtsprechung der Erbgesundheitsgerichte und werden dauernd von diesen angefordert, eine außerordentliche Mehrbelastung für die Büros und den Portoetat der Anstalt.“ (Quelle: Hermeler, S. 24). Auf Katharinas Krankenblatt ist das vermutlich letzte Foto von ihr zu sehen, und es wird ihre Sterilisierung festgehalten.

Ein zum Teil handschriftlich, zum Teil maschinenschriftlich ausgefülltes Formular. An der rechten Blattseite wurde ein Schwarz-Weiß-Foto einer Frau aufgeklebt.


Sterilisierungen in Bedburg-Hau

Gleich mit Beginn der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten wurde das "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" am 14.3.1933 verkündet. Auch in der Provinzial- Heilund Pflegeanstalt Bedburg-Hau sind auf Grundlage dieses Gesetzes viele Patienten sterilisiert worden. Nach einer Übersicht aus dem Jahre 1936 wurde bei einem Bestand von 3.436 Patienten bei 2.509 Patienten Anzeige wegen Erbkrankheit gestellt. Bei 957 Patienten wurde die Sterilisierung beantragt. Nicht beantragt wurde die Sterilisierung bei Patienten, bei denen auf Dauer eine Unterbringung in einer Heil- und Pflegeanstalt vorgesehen war und bei Patienten, die auf Grund ihres Alters als nicht mehr fortpflanzungsfähig galten. Durchgeführt war die Sterilisierung bis zu diesem Zeitpunkt bereits bei 705 Kranken, teilweise direkt hier in der Anstalt Bedburg-Hau durch einen Arzt des St. Antonius-Hospitals Kleve. Nach der damaligen Gesetzeslage durften Patienten, bei denen eine Anzeige wegen Erbkrankheit erstattet war, erst dann entlassen werden, wenn die Sterilisation durchgeführt worden war. Nur so ist es zu verstehen, dass Angehörige auf die Beschleunigung des Sterilisationsverfahrens drängten, um die Entlassung ihrer Angehörigen zu erreichen. Bis 1936 wurden von 705 sterilisierten Kranken insgesamt 183 Patienten entlassen. 
(Quelle: LVR-Klinik Bedburg-Hau) 

Die Erbgesundheitsgerichte wurden am 1. Januar 1934 auf Grundlage des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses eingeführt. Der Weg zur Zwangssterilisation von „erbkranken“ Menschen, Alkoholikern und Alkoholikerinnen war damit bereitet. Auch der Weg zur Sterilisation Katharinas am 27. Juli 1937. Eine von geschätzten 360.000, die zwischen 1933 und 1945 vorgenommen wurden. Ein Runderlass des Ministeriums des Innern vom 16. Oktober 1934 bestimmte für das Rheinland und das Saarland, welche „Krankenanstalten zur Durchführung des chirurgischen Eingriffs des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" in Frage kamen. Darunter war das Städtische Krankenhaus Krefeld, in das Katharina gebracht wurde, wie aus ihrer Akte auf der folgenden Seite hervorgeht: 

„27.7.37 Wird heute zur Durchführung der Sterilisation nach Krefeld verlegt. 

17.8.37 Heute vom Städt. Krhs. Krefeld nach erfolgter Sterilisierung zurückverlegt. Gestern war die Schwester, Anita Sandmann, in der Sprechstunde. Sie erzählte, daß ihr schon häufig von Ärzten gesagt worden wäre, daß ihre Mutter ja auch geisteskrank gewesen wäre. Sie selbst bestreitet das, ihre Mutter sei zeitlebens eine körperlich und geistig gesunde Frau gewesen. Durch diese, von Pat. gemachten Angaben, komme ihr Bruder, der Eheerlaubnis einholen müsse, in große Schwierigkeit. Die Schwester verlangte die Abänderung dieser Angabe im einweisenden Fragebogen ihrer Schwester.“ 
(Transkription aus dem Sütterlin: Johannes Menge)

Handschriftlich ausgefülltes Formular mit den drei Spalten Datum, Krankheitsverlauf und Vermerkungen. Letztere ist nicht gefüllt.

Die Sippentafeln

Ganz oben auf Katharinas Krankenblatt steht handschriftlich: „Sippentafel abgegeben“. Ordnung war schon immer der Deutschen oberstes Gebot. Die erbliche Belastung der „Idioten“ musste belegt werden. Am 11. Mai 1936, also 20 Tage vor Einlieferung Katharinas in Bedburg-Hau, wurde in Bonn das Provinzial-Institut für psychiatrisch-neurologische Erbforschung eröffnet. Dieses sammelte unter anderem so genannte Sippentafeln von Familien, in denen Krankheiten verzeichnet waren, die auf eventuelle Vorbelastungen bzw. erbliche Gefährdungen hinwiesen. 1938 gab es bereits 28.000 dieser Sippentafeln (Quelle: Hermeler S. 25).

Eine davon beleuchtete die Familie Sandmann. Sie wurde bei Katharinas Einlieferung in Bedburg-Hau von der Medizinalpraktikantin Beate Edelmann am 31. Januar 1937 erstellt und umfasst Daten zu 17 Familienmitgliedern. Katharina wird der damals üblichen Konstitutionstypologie folgend als „leptosom“ kategorisiert, also als körperlich und geistig empfindlich, kompliziert und sprunghaft. Ihr Vater Reinhold, geboren am 3. Dezember 1861 in Berlin, verstorben am 6. April 1936, wird (vermutlich auf Grund von Katharinas Angaben) als nervöser und übererregbarer Charakter dargestellt, der an Arterienverkalkung litt, sowie früher Furunkulose, Lungenentzündung und Wechselfieber gehabt habe. Letzteres ist Malaria, die er sich mutmaßlich zwischen 1892 und 1896 in Ecuador zugezogen hatte. Er war dort als Fotograf und Angestellter eines deutschen, in Quito ansässigen Fotogeschäftes, unterwegs gewesen. Es existiert ein Reisebericht zu dieser Zeit. Katharinas Mutter, geboren mit Mädchennamen Wolff am 30. Januar 1877 in Bremerhaven, verstorben am 10. Februar 1931 in Mülheim an der Ruhr, kommt in der Sippentafel noch schlechter weg als ihr Mann: auch sie habe eine Lungenentzündung gehabt und... sei geistesgestört. Der Widerspruch dazu von Seiten Katharinas jüngerer Schwester Anita Sandmann wurde in der Krankenakte festgehalten, störte aber vermutlich die vorgefasste Meinung und blieb unbeachtet. 

Die Sippentafeln dienten also zur juristischen Untermauerung der Urteile zur Zwangssterilisierung von Menschen durch die Erbgerichte. Der Direktor der Provinzialen Heil- und Pflegeanstalt Bonn, Professor Pohlisch, drückte dies in der Allgemeinen Zeitschrift für Psychiatrie und psychisch-gerichtliche Medizin 111 (1939) folgendermaßen aus: „Das Prinzip unseres Sammelns ist nun kein philatelistisches Zusammentragen kompletter Briefmarkenserien. Die planmäßige Registrierung ganzer Gruppen Kranker und Gesunder in einem regional großen Gebiet, nämlich der Rheinprovinz, dient bereits jetzt praktischeugenischen Maßnahmen, sowohl negativen wie positiven.“ (Quelle: Hermeler, S. 26). 

Sechs Wochen nach Einweisung schickte das Erbgesundheitsgericht bereits einen vertraulichen Brief an das städtische Gesundheitsamt, dass eine Pflegeperson aus ihrem persönlichen Umfeld bestimmt werden solle, die Katharina „im Erbgesundheitsverfahren zu 13 vertreten.“ Am 6. Oktober 1936 wurde ihre Schwester Anita dazu bestimmt. Im selben Brief wird Katharina folgendermaßen charakterisiert: „Frl. Sandmann war seit langen Jahren Büroangestellte am hiesigen Gesundheitsamt. Sie war immer ein sehr sonderbarer, scheuer Mensch, die sich keinem anschloss. Sie war häufig geistesabwesend, stierte vor sich hin und behandelte ihre Umgebung oft sehr kurz und unfreundlich. In den letzten Monaten vor ihrer Einlieferung beschäftigte sie sich in krankhaft übertriebener Form mit der Juden- und Freimaurerfrage und glaubte sich zuletzt von Juden verfolgt. Schon seit mehreren Jahren vernachlässigte sich Frl. S. in Kleidung und Körperpflege in auffallender Weise. Frl. Anita S. gibt noch an, dass ihre Schwester mit 15 Jahren Scharlach durchgemacht habe, und sie seit dieser Zeit der Familie als psychisch verändert aufgefallen sei.“ 

Ich habe im Scharlachratgeber zu Spätfolgen von Scharlach einen Eintrag gefunden, der ins Bild passt: PANDAS, Pädiatrische neuropsychiatrische Autoimmunerkrankung. Bei PANDAS reagieren die gegen die Streptokokken gebildeten Antikörper mit den Basalganglien des Gehirns. Im Gegensatz zur Chorea minor treten hier allerdings die psychiatrischen Störungen in den Vordergrund. Hierzu gehören Zwangsstörungen (Tics), geistige Rückentwicklung, kognitive Defizite, Aggressivität und Depressionen.

 

Noch einmal nach Hause

Am 17. August 1937 kommt Katharina nach drei Wochen im Krefelder Krankenhaus wieder in die Heil- und Pflegeanstalt Bedburg-Hau. Sie kann nun keine Kinder mehr bekommen. Am 11. Oktober 1937 ist sie laut Einwohnermeldeverzeichnis wieder in ihrem Elternhaus in der Eppinghofer Straße 80 gemeldet. Dort wohnt sie bis zu ihrer Wiedereinlieferung mit ihrer Schwester Anita zusammen, die laut Adressbuch „Reclamezeichnerin“ ist. Im Mai 1938 wird verfügt, dass Katharina die Kosten der Unfruchtbarmachung selbst tragen muss. Im gleichen Monat soll sie sich zur Nachuntersuchung in Bedburg-Hau vorstellen, was sie zutiefst verunsichert. Der Amtsarzt des Gesundheitsamtes versucht dies mit einem Brief vom 30. Mai zu verhindern, in welchem er anbietet, Katharina von Oberarzt Dr. Tödter im Gesundheitsamt untersuchen zu lassen, da sie dort bekannt sei und Vertrauen zu ihm habe: „Die Aufforderung an Frl. Sandmann, sich zur Nachuntersuchung in Bedburg-Hau für einige Zeit einzufinden, hat bei ihrem labilen Zustande eine erhebliche Verschlimmerung ihrer Krankheit hervorgerufen. Zureden hatte keinen Erfolg und löste bei ihr nur erneut Tränen aus….“. Im Fragebogen des Gesundheitsamtes vom 1. Dezember 1938 steht, sie „besorgte den Haushalt zur Zufriedenheit, war immer noch etwas scheu. Seit einigen Tagen verändertes Wesen, wollte nicht aufstehen, verweigerte die Nahrung. Der Zustand verschlimmerte sich zusehends.“ Die Wiedereinlieferung wird von der Ortspolizei noch am selben Tag verfügt, „weil ihre Krankheit nicht übersehbare Gefahren in sich birgt.“

 

Nach der Sterilisierung folgt der Tod 

Startschuss für die Vollendung der „Maßnahmen“ war Hitlers „Euthanasiebefehl“ vom Oktober 1939. Grafeneck war der erste Probelauf für die späteren Massenvernichtungen in den Konzentrationslagern. Die Ermordung so genannten „lebensunwerten Lebens“ begann mit der Auswahl der zu Tötenden. 

 

Die Selektion 

Praktische Gründe für die „Verlegung“ von Kranken gab es zuhauf: „…So beanspruchte im November 1939 die Wehrmacht Teile der Provinzial-Heil-und Pflegeanstalt Bedburg-Hau nahe Kleve für ein Heereslazarett. 356 der etwa 3.300 Patienten wurden daraufhin in Anstalten der Provinz Hannover verlegt. Als zudem ein Marinereservelazarett errichtet werden sollte, die eigentliche T 4- Aktion in der Rheinprovinz aber noch nicht angelaufen war, kam es vom 26.2. bis 4.3.1940 zur Inspektion der Anstalt durch eine Ärztekommission unter dem Psychiater Werner Heyde (1902– 1964), dessen Stellung der eines ärztlichen Leiters der T 4-Aktion gleichkam.“ 
(Quelle: LVR Portal Rheinische Geschichte

Obzwar im Rheinland die Meldebögen zu unwertem Leben erst ab Juni 1940 ausgefüllt wurden, fanden sie in Bedburg-Hau schon von der oben genannten Kommission bei der Auswahl der zu deportierenden Patienten Anwendung. 
(Quelle: Ludwig Hermeler, S. 50, Die Euthanasie und die späte Unschuld der Psychiater, Klartext-Verlagsgesellschaft, 2002)

1.632 Bewohner der Anstalt wurden daraufhin an verschiedene Zielorte verbracht, davon viele direkt in Tötungsanstalten. "Bekannt ist, dass 455 Patienten in die Tötungsanstalt Grafeneck transportiert und dort ermordet wurden. 138 der getöteten Patienten hatten den Umweg über die schwäbische Zwischenanstalt Zwiefalten nehmen müssen. Hier überlebten die einzigen zwei der insgesamt 457 aus Bedburg-Hau kommenden Menschen.“ 
(Quelle: LVR Portal Rheinische Geschichte

Der spätere Leiter der Anstalt Grafeneck Baumhard assistierte vom 26. Februar bis 4. März 1940 dem ärztlichen Leiter der T4-Organisation Werner Heyde bei der Selektion, zusammen mit dem Leiter der NS-Tötungsanstalt Bernburg, Irmfried Eberl, und dem T4-Gutachter Friedrich Mennecke. 

 

Abtransport 

Fast 2.000 Menschen wurden also zur Vergasung bestimmt. Eine davon: Katharina. Im anstaltseigenen Bahnhof muss auch sie in einen Waggon steigen. 1.792 Anstaltsbewohner und -bewohnerinnen wurden in verschiedene Anstalten transportiert. Katharina sollte direkt nach Grafeneck zur Vergasung befördert werden. Es ist mit 457 Patienten der größte Transport von allen, der am 6. März 1940 ins Württembergische aufbricht. (Hegeler S. 65).

Begleitet wird der Transport von dem Juristen Dr. Gerhard Bohne, der die Büroleitung des Berliner T4-Büros innehatte sowie die Leitung der "Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten" (RAG). Ebenfalls dabei war Baumhard. Wie alle Täter, nutzte dieser einen Tarnnamen: Dr. Jäger.

157 Männer und 160 Frauen kamen direkt nach Grafeneck. Die Grafenecker Patienten wurden ebenso wie die 140 Frauen, die gleichfalls am 6. März 1940 nach Zwiefalten deportiert wurden, allesamt durch Vergasen ermordet. …Die nach Zwiefalten geschafften Patientinnen wurden knapp einen Monat später, am 2. und 4. April, nach Grafeneck gebracht und bis auf zwei vergast und verbrannt. (Quelle: Thomas Stöckle: Die Aktion T4 am Beispiel Grafenecks.) 

Sigrid Falkenstein beschreibt in ihrem Buch ANNAS SPUREN, wie die Ankunft im Marbacher Bahnhof, der in der Nähe von Grafeneck liegt, ablief: 
Als euer Transport am 7. März 1940 gegen acht Uhr morgens in dem kleinen Bahnhof Marbach in der Nähe von Grafeneck ankommt, liegt hoher Schnee. Das Ausladen der Waggons in dem völlig abgesperrten Bahnhof dauert fast acht Stunden. Vom Bahnhof aus werden die Kranken mit Kraftfahrzeugen nach Grafeneck geschafft. Der Leiter der „Euthanasie“-Tötungsanstalt, der SS-Arzt Horst Schumann, beschwert sich nach Berlin, „dass der Transport mit dem Sonderzug erhebliches Aufsehen erregt hätte und zwar sowohl in der Anstalt als auch in der Bevölkerung. Auch hätte dieser überraschende Anfall von so vielen Kranken das Tötungspersonal vor ein kaum zu bewältigendes Problem gestellt. (…) Da zu dieser Zeit nur jeweils 50 Kranke in die Gaskammer passen, koppelt man zwei Waggons ab und dirigiert sie zum Bahnhof Zwiefaltendorf.“ 140 Frauen werden in die Anstalt Zwiefalten „zwischenverlegt“, wo zwei der Unglücklichen kurz darauf unter katastrophalen Verhältnissen sterben. „Hunderte von Kranken warteten in notdürftigen Unterkünften auf ihre letzte Fahrt. Manchmal waren sie wie Heringe auf Stroh geschichtet.(…) Die 138 Frauen, aus Bedburg-Hau, die dieses Martyrium überlebt haben, werden am 2. und 4. April 1940 erneut nach Grafeneck gebracht und dort vergast. 
(Quelle: Sigrid Falkenstein, Annas Spuren)

Das Datum der Verlegung nach Zwiefalten aus dem Brief von Baumhard, alias Dr. Jäger, an Anita Sandmann (siehe unten) lässt Schreckliches vermuten: Katharina muss unter jenen 140 Frauen gewesen sein, die nach Zwiefalten zwischenverlegt wurden. Katharinas Schwester Anita Sandmann hatte offensichtlich nach dem Verbleib von Briefen an Katharina gefragt:

Zu sehen ist ein mit einer Schreibmaschine beschriebenes blassgrünes Blatt

Geradezu zynisch: zum Zeitpunkt, an dem sie sich angeblich die Rückenmarksentzündung zugezogen haben soll, war sie schon seit Tagen ermordet worden. Gemäß eines Schreibens der Gedenkstätte Grafeneck an mich ist der Zeitpunkt der Vergasung nicht zweifelsfrei zu ermitteln, ist aber gemäß diesem Schreiben am 2. April 1940, denn die Menschen wurden sofort nach Ankunft getötet.

 

Ernst Baumhard

Nur Ärzte durften den Gashahn aufdrehen. Dies tat vor allem Ernst Baumhard, alias Dr. Jäger. Zu ihm gibt es in Wikipedia den folgenden Eintrag: 

Ernst Baumhard (* 3. März 1911 in Ammendorf bei Halle (Saale); † 24. Juni 1943 im Atlantik bei U-Booteinsatz) war in der Zeit des Nationalsozialismus im Rahmen des nationalsozialistischen „Euthanasie“-Programms als Vergasungsarzt in den NS-Tötungsanstalten Grafeneck und Hadamar tätig. 

Herkunft und Studium 

Ernst Baumhard wurde am 3. März 1911 in Ammendorf bei Halle als Sohn eines Arztes geboren und studierte Medizin. Als SA-Mitglied besuchte er die SA-Hochschulamtsschule Sandersleben. Er gehörte dem Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund an und trat 1937 auch der NSDAP bei. 1938 übernahm er die Leitung der Fachschaft Medizin der NS-Studentenführung an der Universität Halle. Als einer der ersten Sieger beim Reichsberufswettkampf wurde Baumhard am 1. Mai 1938 Hitler persönlich vorgestellt. 1939 erhielt Baumhard seine Approbation und wurde nach Verteidigung seiner Dissertationsschrift „Die Einwirkungen von Strohstaub auf den menschlichen Organismus und Maßnahmen zur Verhütung von Schädigungen durch diesen. Untersuchungsergebnisse aus der Cröllwitzer Papierfabrik“ zum Dr. med. promoviert. 

Bei der T4-Organisation 

Auf einer Liste der Zentraldienststelle T4 ist Baumhard unter der Rubrik „Ärzte in den Anstalten“ ab dem 1. November 1939 als Angehöriger der T4-Organisation aufgeführt. Im Januar 1940 nahm er mit anderen T4-Ärzten an der ersten „Probevergasung“ von Kranken im alten Zuchthaus Brandenburg teil. Zu den weiteren Teilnehmern zählten unter anderem die „Euthanasie“-Beauftragten Hitlers, Karl Brandt, Philipp Bouhler sowie Leonardo Conti, der für Gesundheitsfragen zuständige Staatssekretär des Reichsministeriums des Innern. Der SS-Sturmbannführer vom Kriminaltechnischen Institut der Sicherheitspolizei Albert Widmann gab die Anweisungen für die Ärzte, die die Tötung der Patienten vornehmen sollten. Durch ein Guckloch in der Türe zur Gaskammer konnten Wirkung und Dauer des Vergasungsprozesses beobachtet werden. 

In den NS-Tötungsanstalten Grafeneck und Hadamar 

Ab Anfang 1940 wurde Baumhard im Rahmen des nationalsozialistischen „Euthanasie“- Programms (im Nachkriegssprachgebrauch "Aktion T4") zum stellvertretenden Vergasungsarzt der NS-Tötungsanstalt Grafeneck bestellt und übernahm im April 1940 die Nachfolge von Horst Schumann als Leiter der Vergasungsanstalt. Hier trat er im Schriftwechsel unter der Tarnbezeichnung „Dr. Jäger“ auf. Mit der Geheimhaltungspflicht gegenüber der Bevölkerung wurde es in Grafeneck nicht immer so genau genommen. So ist bekannt, dass Baumhard den Leiter der Heilanstalt Winnenthal, Obermedizinalrat Otto Gutekunst, anlässlich des Abtransports seiner selektierten Patienten zu einer Besichtigung von Grafeneck eingeladen hatte. Gutekunst sagte später hierzu aus: 
„Ich hatte natürlich Interesse zu erfahren, was dort oben vorgeht; ich konnte mir ja nicht vorstellen, wie die Tötung der vielen Menschen vor sich gehen sollte. Ich sagte ihm, ich würde kommen … Der Arzt [Baumhard d.V.] zeigte mir eine Baracke mit Betten, die wahrscheinlich nie benutzt wurden, denn sie waren alle frisch überzogen, den Gasraum mit vorgeschützter Brause, die Verbrennungsöfen, und außerdem sah ich in einem Nebenraum einen großen Haufen Asche mit Knochenstücken. Meiner Erinnerung nach verklopfte ein Angestellter von Grafeneck diese Knochenstücke gerade mit dem Hammer. Nach meiner Rückkehr sagte ich meinem Pfarrer Flachsland in Winnenden, er möge bei einer etwaigen Beisetzung einer Urne aus Grafeneck nicht sagen: ‚ich gebe Deine Asche zu Asche’, sondern ‚Ich gebe die Asche zu Asche’, um zu betonen, daß es sich nicht um die Asche des Toten handelt.“ 
Eine ähnliche Einladung zur letzten Vergasung im Dezember 1940 richtete Baumhard auch an Dr. Martha Fauser, die Leiterin der als Zwischenanstalt genutzten Heil- und Pflegeanstalt Zwiefalten. 

Am 4. Juni 1940 wurde die Oberpflegerin Änne Hagemeier unter mysteriösen Umständen in Grafeneck erschossen. Zu einer zweifelsfreien Aufklärung des Falles ist es nie gekommen. Im Grafeneckverfahren gab eine der „Trostbrief“-Schreiberinnen hierzu zu Protokoll: „Im Sommer 1940, als ich infolge der Gehirnerschütterung zu Bett lag, es war am 4. Juni 1940, traf ein Transport ein, bei dem sich ein Leprakranker befand, dessen Gesicht nach Aussage der Pfleger schon angefressen war. Der Leprakranke wurde alsbald von Dr. Baumhard mit der Pistole erschossen, um Ansteckung der Pfleger zu vermeiden. Baumhard ordnete an, daß alles stehenbleiben solle, die Oberpflegerin Hagemeier aus dem Rheinland sprang aber noch auf die andere Seite und wurde von der Kugel tödlich getroffen. Dr. Baumhard, der es mir selber erzählte, war darüber sehr bestürzt und außer sich. Er wollte sich das Leben nehmen.“ 

Nach Auflösung der NS-Tötungsanstalt Grafeneck zum Jahresende 1940 wechselte Baumhard zur NS-Tötungsanstalt Hadamar, wo er als Direktor und erster Vergasungsarzt fungierte und den Tarnnamen „Dr. Moos“ verwendete. Nach Differenzen mit dem T4-Organisator Viktor Brack gingen Baumhard sowie sein Stellvertreter Günther Hennecke im Sommer 1941 zur Kriegsmarine. Nach dem „Hartheimer Dokument“, einer Statistik der T4-Organisation, wurden im Jahre 1940 in Grafeneck 9.839 und vom Januar 1941 bis Ende August 1941 in Hadamar 10.072 Menschen getötet. Auf den Zeitraum, in dem Baumhard in Hadamar war, entfielen 6.262 Opfer. Baumhard fuhr ab dem 25. August 1941 bei der Kriegsmarine als Marinearzt und Sanitätsoffizier auf U-Booten. Bei einem solchen Einsatz fand er am 24. Juni 1943 den Tod auf U 449. Ein Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Frankfurt/Main hinsichtlich seiner Tätigkeit in Grafeneck und Hadamar wurde im August 1946 mit dem Vermerk „Mutmaßlich verstorben“ eingestellt.

 

Die letzte Fahrt

Die letzte Fahrt vom Bahnhof nach Grafeneck findet in einem umlackierten Postbus statt. Das Regime hatte zu diesem Zweck extra die Gemeinnützige Krankentransport GmbH gegründet (Quelle: Wikipedia). Rote Postbusse wurden grau umgespritzt. Um den Einblick von außen zu verhindern, wurden die Fenster mit Vorhängen verhüllt oder mit Farbe bestrichen. In einer Schilderung eines Transports nach Grafeneck wird dargestellt, dass der Transportführer in einem PKW vor der aus drei Bussen bestehenden Kolonne fuhr. Jedem Bus waren zwei Pflegekräfte beigegeben. Gewalttätige Kranke konnten am Sitz festgeschnallt werden. Pfleger hatten überdies Handschellen dabei (Quelle: Ernst Klee, S. 136).

 

Was mich am meisten geschockt hat

Ernst Klee schreibt in seinem umfangreichen Werk „Euthanasie im Dritten Reich" auf Seite 153 unter der Überschrift „Vergasungs-Tourismus“: "Grafeneck arbeitet nicht in jener Geheimhaltungs-Abgeschiedenheit, wie man vermuten würde. Einkäufer Schütt quartiert im Sommer 1940 seine Ehefrau für einige Wochen in der Gestütswirtschaft ein, Vergasungsarzt Baumhard läßt seine Mutter dort Urlaub machen. Gäste kommen vorbei (…)". Am 4. April 1940 besichtigen Mauthe, Sprauer und Stähle mit „Berliner Herren“ – darunter Linden – die Vernichtungsanstalt. Sie sehen sich die Vergasung von Frauen an, die nach Ankunft des Bedburgtransports nach Zwiefalten „zwischenverlegt“ worden waren. (Vermutlich war Käthe unter diesen Frauen – ein unerträglicher Gedanke.) Die Herren begaffen das Sterben der nackten Frauen durch den Spion in der Gaskammertür. Mauthe hört noch eine Stimme aus der Gaskammer: „Wir werden alle getötet!“. Anschließend geht es zum Krematorium: „Bei der Verbrennung entstand starke Rauchentwicklung. Die Verbrennungsbaracke wurde von uns nur kurz besichtigt.“ Zu unangenehm die persönliche Beeinträchtigung durch zu viel Qualm. Man hätte ja gesundheitlichen Schaden davontragen können. Man fragt sich, wie abgestumpft, entmenschlicht Menschen sein können. Was bringt sie dorthin? Könnte auch mir das passieren?

 

Wer waren die Gaffer? (Quelle: Wikipedia)

Ludwig Sprauer trat 1919 in den Staatsdienst ein und war unter der Amtsbezeichnung Medizinalrat bis 1933 als Anstaltsarzt am Landesgefängnis in Mannheim (1919 – 1920) und als Bezirksarzt in Stockach (1920 – 1925), Oberkirch (1925 – 1930) und Konstanz (1930 – 1934) beschäftigt. Im Zuge der Machtübergabe an die Nationalsozialisten wurde Sprauer am 1. Februar 1933 Mitglied der NSDAP und war vorübergehend Stadtrat in Konstanz, bevor er 1934 als Nachfolger Theodor Pakheisers mit der Leitung der Gesundheitsabteilung im Badischen Innenministerium betraut wurde. Bald nach seinem Amtsantritt wurde er zum Obermedizinalrat befördert. Sprauer wurde 1938 zum Regierungsdirektor ernannt und später bis zum Ministerialrat befördert. Er war in dieser Funktion oberster Medizinalbeamter in Baden und hatte seinen Dienstsitz in Karlsruhe. 

Beteiligung an der NS-Euthanasie
Sprauer war ein Befürworter des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses. Im Oktober 1939 wurde Sprauer durch Herbert Linden mit Hinweis auf Geheimhaltung die geplante Aktion T4 sowie die damit einhergehende Erfassung Kranker auf Meldebögen bekannt gegeben und zur Mitarbeit verpflichtet. Sprauer oblag schließlich die administrative Durchführung des „Euthanasie“-Programms in Baden. Mit Vertraulichkeitsvermerk wurde Ende November 1939 vom Badischen Innenministerium ein Erlass an die badischen Anstalten verschickt, der den Einrichtungen die Verlegung einer „größeren Anzahl“ ihrer Insassen ankündigte. Danach wurden die Leiter der staatlichen Anstalten durch Sprauer über die Aktion T4 in Kenntnis gesetzt. Sprauer autorisierte nach Auswertung der Meldebögen im Auftrag des Badischen Innenministeriums die Transportlisten der zur Verlegung in NS-Tötungsanstalten bestimmten Anstaltsinsassen. Auf Sprauers Anregung wurde der Mediziner Arthur Schreck im Februar 1940 zum T4-Gutachter bestellt. Schreck gab während einer Nachkriegsaussage zu, insgesamt 15.000 Meldebögen gesichtet und dabei 8.000 Patienten zur Tötung vorgeschlagen zu haben. Insgesamt wurden von Februar bis Dezember 1940 mindestens 4.500 Badener Anstaltsinsassen in der NS-Tötungsanstalt Grafeneck ermordet. Der Obermedizinalrat Otto Mauthe sagte nach Kriegsende aus, dass er mit Sprauer, Linden und Stähle bei der Vergasung eines Frauentransportes anwesend war und alle dabei zusahen. Sprauer arbeitete auch an dem Entwurf zum nicht in Kraft getretenen Euthanasiegesetz mit. Ab 1943 führte Sprauer den Titel Professor.

Otto Mauthe (* 9. November 1892 in Derdingen; † 22. Mai 1974 in Stuttgart) war ein deutscher Gynäkologe und Beamter. Als Obermedizinalrat im Württembergischen Innenministerium während der Zeit des Nationalsozialismus war er in verantwortlicher Position an den Krankenmorden („Aktion T4“) und der systematischen Ermordung von Sinti und Roma beteiligt. Mauthe hat Anordnungen im Rahmen der „Euthanasie“-Aktion bearbeitet oder auch selbst getroffen und war maßgeblich für die Erfassung und Verlegung von Geisteskranken und Kindern verantwortlich.

Eugen Stähle: (* 17. November 1880 in Stuttgart, † 13. November 1948 in Münsingen) Von März bis November 1933 saß Stähle als Abgeordneter der NSDAP im Reichstag. Nach der nationalsozialistischen „Machtergreifung“ 1933 leitete Stähle als Ministerialdirektor im württembergischen Innenministerium die Abteilung Gesundheitswesen. 1934 wurde er zudem Gauamtsleiter für Volksgesundheit im Gau Württemberg. Im Dezember 1935 wurde Stähle Vorsitzender im Landesverband Württemberg des Reichsbundes der Kinderreichen (R.d.K.) und zugleich Mitglied des Ehrenführerrings des R.d.K. Weiterhin war er Obmann der Ortsgruppe Stuttgart der Nationalsozialistischen Kriegsopferversorgung (NSKOV). Im November 1942 übernahm er den Vorsitz im Gaugesundheitsrat für Württemberg-Hohenzollern und trug zugleich den Titel „Gaugesundheitsführer“. Hitler ernannte Stähle im Januar 1943 zum Professor. 

Eigenen Angaben zufolge wurde Stähle im Herbst 1939 von Herbert Linden über die in der „Aktion T4“ geplanten nationalsozialistischen Krankenmorde an Behinderten und psychisch Kranken („Euthanasie“) informiert. Im Oktober 1939 war Stähle maßgeblich an der Auswahl des auf der Schwäbischen Alb gelegenen Schlosses Grafeneck als Tötungsanstalt der „Aktion T4“ beteiligt. Während der „Aktion T4“ übernahm die von Stähle geleitete Abteilung im württembergischen Innenministerium die Rolle einer regionalen Zentralstelle; Stähle leistete dabei „offenbar ohne Bedenken und in umfassender Weise Beiträge zur Krankenmordaktion.“ Stähle unterzeichnete Schreiben, in denen die Verlegung von Kranken aus württembergischen Anstalten in die Tötungsanstalt Grafeneck angeordnet wurde. Nach späteren Aussagen von Reinhold Vorberg, dem Leiter der mit den Krankentransporten beauftragten Gekrat, fanden bei Stähle Besprechungen zu den Verlegungen statt. Im Frühjahr 1940 war Stähle in Grafeneck bei der Vergasung von Frauen anwesend. Protesten von Vertretern der Kirchen gegen die trotz Geheimhaltung bekannt gewordenen Krankenmorde in Grafeneck begegnete er mit der Aussage „Das 5. Gebot: Du sollst nicht töten, ist gar kein Gebot Gottes, sondern eine jüdische Erfindung.“ 

Nach der Einstellung der Krankenmorde in Grafeneck im Dezember 1940 hielt es Stähle für „selbstverständlich“, dass die Direktoren der Anstalten „selbst Euthanasie weiterbetreiben würden.“ In der zweiten Phase der nationalsozialistischen Krankenmorde, der Aktion Brandt, wurden zahlreiche Patienten durch systematische Unterernährung oder Überdosierung von Medikamenten ermordet. In der Endphase des nationalsozialistischen Regimes wurden auch erkrankte Zwangsarbeiter Opfer der Krankenmorde. Im April 1945 forderte Stähle von einem Anstaltsarzt, allerdings vergeblich, „die ‚Umlegung‘ von 100 kranken Ostarbeitern“. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Stähle, der auch Träger des Goldenen Parteiabzeichens war, von den Alliierten verhaftet und mehrfach verhört. Er starb 1948 als Untersuchungshäftling im Kreiskrankenhaus Münsingen.

 

Die Todesnachricht an die Familie

Katharinas Bruder bekam den folgenden Formbrief. Das Todesdatum ist mit Sicherheit falsch, da die Menschen im Allgemeinen sofort nach Ankunft vergast wurden. Der im Original mutmaßlich als Dr. Klein unterzeichnende Arzt war der Leiter der Tötungsanstalt. Sein Klarname: Dr. Horst Schumann.

Maschinenschriftliches Schreiben auf blassgrünem Papier

Als Todesursache lässt Schumann „Rückenmarksentzündung mit anschließender Lähmung“ eintragen. Nach anfänglichen Fehlern bei den Todesursachen im Rahmen der Aktion T4 – man hatte zum Beispiel Blinddarm-Durchbrüche bei Patienten angegeben, die gar keinen Blinddarm mehr hatten – legte man bald mehr Wert auf Glaubwürdigkeit. Nach der Todesnachricht fragte Schwester Anita Sandmann nach den Habseligkeiten ihrer Schwester, die in Grafeneck verblieben sein sollten, unter anderem – es wirkt zynisch – eine Gasmaske. Am 29. Oktober 1940 bekommt sie aus Bedburg-Hau die Nachricht: „Auf Ihr Schreiben vom 21.10.1940 teile ich mit, dass Ihre Schwester Käthe Sandmann nicht im Besitze einer Gasmaske war.“ Zudem musste Anita auch noch für Katharinas „Aufenthalt“ zahlen, wie aus dem folgenden Brief hervorgeht:

Maschinenschriftliches Schreiben auf beigefarbenem Papier

Der zu Anfang genannte Eintrag in der Krankenakte vom 3. August 1936 aus der Heil- und Pflegeanstalt Bedburg-Hau lautet in Gänze: 
Keine Verfolgungsideen, keine Zwangsvorstellungen, keine Zwangshandlungen. Die Frage nach Halluzinationen lehnt sie mit folgenden Worten ab: 
„Natürlich ist hier alles nicht so wie zu Hause oder im Büro, aber weshalb soll ich mich denn hier fürchten?“

 

Schloss Sonnenstein

Da die Vergasungsanlagen in Grafeneck abgerissen wurden, in der Galerie noch Bilder und Texte zu der Vernichtungsanlage Sonnenstein bei Pirna, die ich im Mai 2017 besuchte. Dort befindet sich eine Gedenkstätte zur Aktion T4. Nach Schließung von Grafeneck wurden hier fast 14.000 Menschen getötet. Die Anlage ist besser erhalten als Grafeneck. Zu sehen sind auch persönliche Gegenstände von Opfern, was sehr berührt.

 

Einige der Täter

Horst Schumann

Horst Schumann, geboren am 1. Mai 1906 in Halle an der Saale, verstorben am 5. Mai 1983 in Frankfurt am Main, war als Arzt an der Aktion T4 und Aktion 14f13 sowie im Konzentrationslager Auschwitz bei Menschenversuchen zur Sterilisierung durch Röntgenstrahlen beteiligt. Horst Schumann wurde als drittes Kind des in Halle an der Saale tätigen praktischen Arztes Paul Schumann geboren. Die Ehe seiner Eltern wurde geschieden, als er fünf Jahre alt war. Da auch eine zweite Ehe seines Vaters, bei dem er geblieben war, scheiterte, wurde er praktisch von seiner größeren Schwester großgezogen. Ab 1917 lebte er in einer Privatpension in Halle und besuchte hier das Humanistische Gymnasium. 

Bereits mit 14 Jahren wurde Schumann als freiwilliger Meldegänger von Regierungstruppen bei Auseinandersetzungen zwischen Arbeiterwehren und Reichswehreinheiten eingesetzt, die sich nach dem Kapp-Putsch vom März 1920 abspielten. Die fehlende Geborgenheit in einem intakten Elternhaus und seine Zuflucht zu militanten und von Kameraderie bestimmten Wehrverbänden in frühester Jugend lassen auf eine Prägung des jungen Schumann in radikale Richtungen schließen: „Ich war vielleicht 13 Jahre alt, als mich mein Vater zu den verstümmelten Leichen von Landpolizeibeamten führte, die Opfer von kommunistischen Horden waren. Mein Vater sagte zu mir etwa sinngemäß: So wird es uns gehen, wenn die an die Macht kommen!“ Etwa 1922 trat er dem „Kampfbund Oberland“ bei und war auch für einige Monate als Mitglied bei der „Deutschvölkische Freiheitspartei“ registriert. 1925 legte er das Abitur ab und begann in Leipzig ein Medizinstudium. 

Beruflicher und politischer Werdegang

Während seiner Studentenzeit trat Schumann am 1. Februar 1930 in die NSDAP ein (Mitglieds-Nr. 190.002), wie sein Vater, der ihr schon vor 1930 angehörte. Außerdem wurde Schumann Mitglied des Corps Budissa, bei dem sein Vater bereits Alter Herr war. Nach dem Physikum studierte er in Innsbruck weiter und schloss sein Studium schließlich im Juni 1931 in Halle ab. 1932 trat er in die SA ein. Im gleichen Jahr erhielt er seine Approbation und war ab Juli 1933 als Assistenzarzt in der Chirurgischen Abteilung der Universitätsklinik Halle beschäftigt. Seine 1933 vorgelegte, 20 Seiten umfassende Dissertation, behandelte die „Frage der Jodresorption und der therapeutischen Wirkung sog. Jodbäder“. 

Im November 1933 heiratete Schumann Frieda Meye, mit der er zwei Söhne hatte und zehn Jahre verbunden blieb. Im folgenden Jahr trat er eine Beamtenstelle am städtischen Gesundheitsamt an, wo er einige Jahre später zum Amtsarzt berufen wurde. Auf dieser Basis begann der Jungarzt, seine Karriere systematisch auszubauen. Er wurde SA-Standartenarzt, stellvertretender Gauobmann des NS-Ärztebundes, Vorsitzender des Gaudisziplinargerichts, Gauamtsleiter des Amtes für Volksgesundheit der NSDAP und Gutachter des Erbgesundheitsgerichtes Halle. Hier wirkte er an Zwangssterilisierungen aufgrund des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ vom 14. Juli 1933 mit und wurde so zum ersten Mal mit der nationalsozialistischen Doktrin von der „Ausmerzung erbkranken Nachwuchses“ konfrontiert. 

Aktion T4 

Bereits vor seiner Einberufung zur Luftwaffe mit Beginn des Zweiten Weltkrieges hatte Schumann an militärischen Lehrgängen und Reserveübungen in den Jahren 1937 und 1938 teilgenommen. Nachdem er zwei Monate Musterungen durchgeführt hatte, wurde er dem Hauptamtsleiter Viktor Brack in der Kanzlei des Führers (KdF) zugewiesen, die mit der Durchführung der Aktion T4 beauftragt war. Im Gegensatz zu seinem ehemaligen Klassenkollegen Werner Kirchert entschied sich Schumann nach der eingeräumten einwöchigen Bedenkzeit, die ihm von Brack erläuterte Aufgabe bei der Durchführung der sogenannten „Euthanasie“ anzunehmen. Schumann äußerte sich in seiner Vernehmung Ende der 1960er Jahre wie folgt: „Im September oder Oktober 1939 wurde ich telefonisch von der Kanzlei des Führers für einen Sonderauftrag angefordert. Ich meldete mich bei der KdF. Dort hat mir Brack […] das Prinzip der vorgesehenen Euthanasie-Aktion vorgetragen. Er wies darauf hin, dass die beabsichtigte Aktion auf einen Befehl des Führers zurückginge und hat mir bei dieser oder einer anderen Gelegenheit das Schreiben vom 1. September 1939 an Reichsleiter Bouhler und Dr. med. Brandt gezeigt. Brack hat mich zur Verschwiegenheit verpflichtet und mich darauf hingewiesen, dass es sich um eine Geheime Reichssache handele.“ 

Schumanns erster Auftrag war der Aufbau der ersten in Württemberg gelegenen Tötungsanstalt Grafeneck für Geisteskranke und Behinderte. Am 18. Januar 1940 traf der erste Transport von 25 Männern aus der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar bei München in Grafeneck ein, wo sie in der Gaskammer ermordet wurden. Bis zur Versetzung Schumanns in die Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein Ende Mai oder Anfang Juni 1940 wurden in Grafeneck unter seiner Leitung 1.239 Patienten durch Kohlenmonoxidgas umgebracht. Vor ihrer Tötung wurden die Patienten von den Anstaltsärzten Schumann, Günther Hennecke und – ab April – Ernst Baumhard überprüft; zum Teil erhielten sie Beruhigungsspritzen. Die wenige Sekunden bis zu einer Minute dauernde Untersuchung diente dazu, „die sachliche und personelle Richtigkeit der vorgestellten Kranken zu überprüfen“. Zudem wurden auffallende Kennzeichen notiert, die später zur Fälschung der Todesursache genutzt wurden. Die Anstaltsärzte bedienten das Manometer, das das Kohlenmonoxidgas in die Gaskammer einströmen ließ. Wenn in der Gaskammer keine Bewegung mehr festgestellt wurde, wurde nach rund 20 Minuten die Gaszufuhr eingestellt. Einer Veröffentlichung der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg zufolge stumpften die Ärzte ab und kommentierten die Vergasungen mit Bemerkungen wie „Jetzt purzeln sie schon“. 

Vor seinem Antritt als neuer Leiter der Tötungsanstalt Sonnenstein absolvierte Schumann einen mehrwöchigen psychiatrischen Weiterbildungskursus bei Professor Werner Heyde, dem ärztlichen Leiter der Aktion T4, an der Universitätsklinik Würzburg. Unter der Leitung Schumanns wurden von Juni 1940 bis August 1941 in der Gaskammer der Tötungsanstalt Sonnenstein 13.720 Patienten und über 1.000 KZ-Häftlinge getötet. Nach Einstellung der Aktion T4 im August 1941 wurde Schumann von Dezember 1941 bis April 1942 der Organisation Todt zugewiesen und an die Ostfront kommandiert, wo er beim Aufbau eines Notlazarettes in Minsk eingesetzt wurde. Im Frühjahr 1942 kehrte er wieder nach Pirna zurück, ohne dass er hier nach teilweiser Entlassung des Personals noch eine konkrete Tätigkeit auszuüben hatte. 

Aktion 14f13

Kurz vor der offiziellen Einstellung der Aktion T4 wurde Schumann als Gutachter für eine Ärztekommission bestellt, die unter dem Decknamen „14f13“ oder „Aktion 14f13“ mit der Selektion von arbeitsunfähigen oder als unheilbar krank geltenden Häftlingen in den Konzentrationslagern beauftragt wurde. So kam er am 28. Juli 1941 zum ersten Mal nach Auschwitz. Hier selektierte er 575 Häftlinge, die in die NS-Tötungsanstalt Sonnenstein zur Vergasung gebracht wurden. Weitere Selektionen führte er in den Konzentrationslagern Buchenwald, Dachau, Flossenbürg, Groß-Rosen, Mauthausen, Neuengamme und Niederhagen durch. 

Sterilisierungsversuche im Konzentrationslager Auschwitz

Von der Kanzlei des Führers erhielt Schumann im Herbst 1942 den Auftrag, die Wirksamkeit von Sterilisierungen mittels Röntgenstrahlen an Häftlingen des Konzentrationslagers Auschwitz zu erproben. Es ging dabei um die Suche einer effizienten Methode, die Fortpflanzung von Erbkranken und rassisch unerwünschten Menschen durch Unfruchtbarmachung zu verhindern. Im Auftrag des Reichsführers-SS Heinrich Himmler waren eine Reihe von Ärzten damit befasst, die verschiedensten Methoden hierfür zu entwickeln und zu erproben. So erarbeitete Professor Carl Clauberg, ebenfalls im Konzentrationslager Auschwitz, eine Methode zur operationslosen Massensterilisierung, indem ein für diese Zwecke speziell entwickeltes chemisches Präparat in die Eileiter injiziert wurde, das deren starke Entzündung zur Folge hatte. Dies führte zum Zusammenwachsen und damit zur Verstopfung der Eierstöcke. 

Am 2. November 1942 nahm Schumann seine Tätigkeit in Block 30 des Frauenkrankenbaues von Auschwitz-Birkenau auf. Nach Sterilisierung von etwa 200 jüdischen Männern wandte er sich nach Verlegung der Versuchsstation in den Block 10 des Stammlagers im Februar 1943 auch einer Bestrahlung weiblicher Versuchspersonen zu. Bei den Männern wurden die Hoden, bei den Frauen die Eierstöcke bestrahlt. Um die optimale Strahlendosis zu finden, experimentierte Schumann mit verschiedenen Strahlenstärken und Bestrahlungszeiten. Für einen Großteil der Versuchsopfer führte die Bestrahlung zu Verbrennungen und eitrigen Entzündungen vor allem im Bereich des Unterleibs, der Leistengegend und am Gesäß, die nicht nur schmerzhaft waren, sondern auch häufig zum Tode führten. Zur Kontrolle seiner Experimente ließ er bestrahlten Frauen durch Häftlingsärzte, insbesondere Władysław Alexander Dering, Eierstöcke herausoperieren. An den Folgen dieser Operationen kamen einige der jungen Frauen ums Leben. Im Ergebnis erwies sich die Röntgenbestrahlung als eine schnelle Methode für Massensterilisierungen als ungeeignet. 

Schumann beschrieb in seiner Arbeit „Über die Wirkung von Röntgenstrahlen auf die menschlichen Fortpflanzungsorgane“, die er im April 1944 an Himmler schickte, als Fazit die herkömmliche operative Kastrationsmethode für sicherer und schneller und stellte daher seine Versuche in Auschwitz im gleichen Monat ein. Allerdings setzte er nach seiner Versetzung in das Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück eine neue Versuchsreihe mit Zigeunerkindern an. 

Nach Scheidung von seiner ersten Frau heiratete Schumann am 11. September 1944 die Büroangestellte Josefa Pütz, die er in der NS-Tötungsanstalt Sonnenstein kennengelernt hatte. Aus dieser Ehe gingen drei Kinder hervor.

Kriegseinsatz, -gefangenschaft und Flucht 

Im Januar 1945 kam er als Truppenarzt an die Westfront, wo er in amerikanische Gefangenschaft geriet, aus der er im Oktober 1945 wieder entlassen wurde. Mit seiner Frau zog er nach Gladbeck und meldete sich beim dortigen Einwohnermeldeamt ordnungsgemäß am 15. April 1946 an. Zunächst als Sportarzt in Diensten der Stadt Gladbeck, eröffnete er 1949 mit einem Flüchtlingskredit eine eigene Praxis. Im Juli 1950 wurde er Knappschaftsarzt der Ruhrknappschaft, obwohl sein Name bereits in Eugen Kogons frühem Werk über den „SS-Staat“ genannt wurde. Ein Antrag vom 29. Januar 1951 auf Erteilung eines Jagd- und Fischereischeines bei der Stadt Gladbeck führte schließlich aufgrund des erforderlichen polizeilichen Führungszeugnisses zu seiner Enttarnung als ein von der Staatsanwaltschaft Tübingen Gesuchter. Die zögernden Ermittlungen ermöglichten es Schumann jedoch, am 26. Februar 1951 ins Ausland zu fliehen. 

Nach drei Jahren als Schiffsarzt erhielten die deutschen Behörden erstmals wieder am 25. Februar 1954 durch das deutsche Generalkonsulat im japanischen Osaka-Kobe einen Hinweis auf Schumann. Dieser hatte dort einen deutschen Reisepass beantragt und erhalten. Die Spur Schumanns führte dann 1955 weiter nach Ägypten und Mitte des gleichen Jahres in den Sudan, wohin ihm auch seine Frau nachreiste. In der Wochenzeitung „Christ und Welt“, deren Redaktionsleiter der Journalist und ehemalige SS-Hauptsturmführer Giselher Wirsing war, erschien am 16. April 1959 ein Artikel über einen „zweiten Albert Schweitzer“ in Li Jubu, einem Ort im Grenzgebiet von Sudan, Kongo und Französisch-Äquatorialafrika, und führte damit ungewollt zur Enttarnung Schumanns. Einem Haftbefehl konnte sich Schumann durch seine Flucht über Nigeria nach Ghana entziehen, wo er in Kete Krachi ein Urwaldkrankenhaus errichtete und leitete.

1961 wurde ihm in Deutschland der akademische Grad aberkannt. Ein Reporter des Daily Express entdeckte das Ehepaar Schumann 1962 in Ghana. Ein deutsches Auslieferungsersuchen aus dem Vorjahr wurde vom ghanaischen Staatspräsidenten Kwame Nkrumah, der Schumann zu seinen Freunden zählte, ignoriert. Erst nach dessen Sturz im Februar 1966 wurde Schumann von den neuen Machthabern festgesetzt und am 7. März 1966 in Auslieferungshaft genommen. Am 17. November 1966 wurde er an Deutschland ausgeliefert und in der Strafvollzugsanstalt Butzbach in Hessen in Untersuchungshaft genommen. Von seiner zweiten Frau, die mit seiner Familie bereits 1965 nach Deutschland zurückgekehrt war, ließ sich Schumann im September 1969 scheiden. 

Der Prozess

Der Prozess gegen Schumann begann am 23. September 1970 vor dem Landgericht Frankfurt am Main und geriet aufgrund der zahlreichen und teilweise dubiosen Gutachten über seine Verhandlungsunfähigkeit zum Justizskandal. Schließlich wurde das Verfahren am 14. April 1971 wegen Verhandlungsunfähigkeit, bedingt durch einen zu hohen Blutdruck des Angeklagten, vorläufig eingestellt. Am 29. Juli 1972 erfolgte seine Haftentlassung. Den Rest seines Lebens verbrachte Schumann in Frankfurt-Seckbach, wo er 1983 verstarb.
(Quelle: Wikipedia)

 

Dr. Martha Fauser, Direktorin in Zwiefalten

Als Ärztliche Leiterin der psychiatrischen Anstalt Zwiefalten unterschreibt die Direktion Dr. Martha Fauser im Rahmen der T4-Aktion die Deportation und damit das Todesurteil von 387 psychiatrischen Patienten. 1949 ist sie neben einer Reihe männlicher Kollegen die einzige angeklagte Ärztin im sogenannten Grafeneck-Prozess, in dem sich insgesamt lediglich acht Angeklagte wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Beihilfe zum Mord verantworten müssen. "Anfang Dezember wurde ich von Dr. Baumhardt aufgefordert, an einem Kameradschaftsabend auf Grafeneck teilzunehmen." Martha Fauser besichtigt die Vergasung von siebzig Frauen, aber nicht mehr die anschließende Leichenverbrennung. Begründung: "...ich war zu sehr ergriffen." 
(Quelle: Zeit online

Unglaublich, aber wahr: 

Erst am 25. August 1998 wurden die Gerichtsurteile zu Zwangssterilisierungen aufgehoben, und am 24. Mai 2007 wurde endlich das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933 geächtet. 

 

Schlusswort 

Die Patientenakten der „Euthanasie“-Opfer im Bundesarchiv Berlin kann nicht jeder einsehen. Nur Wissenschaftler oder Angehörige mit berechtigtem Interesse dürfen das. Letztere nach sehr ausführlicher Untersuchung des Verwandtschaftsverhältnisses und zig entsprechender Nachweise. 

Zu vielen Namen gibt es Krankenakten im Bundesarchiv in Berlin. Dort werden etwa 30.000 Patientenakten der ersten Phase der NS-"Euthanasie” Aktion "T4" archiviert, die 1990 im ehemaligen “NS-Archiv” des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR gefunden wurden. Circa 40.000 weitere Akten von insgesamt 70.000 Menschen, die bis August 1941 der "Aktion T4" zum Opfer fielen, gelten als vernichtet. 

Ich kontaktierte das Archiv zum ersten Mal am 14. Juli 2017, nachdem ich die Signatur der Akte zu Katharina aus Grafeneck erhalten hatte und eine Unzahl an Nachweisen zu Verwandtschaftsverhältnissen, die Einverständniserklärung meines Vetters Harald Sandmann, Antragsformulare, Kopien von Ausweisen etc. pp. an das Archiv gesandt hatte. 

Über ein Jahr nach Beginn meiner Nachforschungen ist diese Dokumentation vorläufig fertig. Ich machte immer wieder Pausen, manchmal wegen anderer Arbeiten, manchmal aber auch, weil ich eine Pause vom Thema brauchte. 

Mein Dank geht hier vor allem an meinen Cousin Hans, der Material beisteuerte, bei der Sütterlin-Transkription behilflich war und Korrektur las. An Cousine Annerose, die sich zusammen mit ihrer Schwester und mir durch Akten, Urkunden und Fotos wühlte. Dank ihrer Sammelleidenschaft waren all die Familiendokumente und Fotos noch vorhanden! 

Weiterhin geht mein Dank an Annett Fercho, Stadtarchiv Mülheim an der Ruhr, die mir etliche Dokumente zu Katharina einscannte und vor allem nachfragte, ob die Mülheimer Stolperstein-Aktion einen Stein für Katharina verlegen dürfe. Von Grafeneck bekam die Familie vermutlich nur eine Urne mit der Asche unbekannter Herkunft. Ob und wo diese beigesetzt wurde, ist nicht bekannt. So wird es auch eine materielle Erinnerung an sie geben. Dass sie nicht vergessen wird, war das Ziel dieser Dokumentation.

 

Verlegeort Eppinghofer Straße 80

Verlegedatum 24. Mai 2019

Verfasst von I. Mathe-Anglas Rodriguez