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Mülheim im Ersten Weltkrieg

Im Jahr 1914 begann mit der Kriegserklärung des Deutschen Reiches an Russland und mit dem deutschen Einmarsch in das neutrale Belgien der Erste Weltkrieg. Ein Krieg, der in der kollektiven Erinnerung ebenso wie in der Gedenkkultur Deutschlands bislang eine untergeordnete Rolle gespielt hat. Es sind der Zweite Weltkrieg und die Gräuel des Nationalsozialismus', die gerade hier in Deutschland aus vielen, sehr unterschiedlichen Gründen ein stärkeres Gewicht in der Erinnerungskultur erleben. Andere europäische Nationen hingegen bezeichnen den Ersten und wohlweislich nicht den Zweiten Weltkrieg als den "großen Krieg", als "the great war" oder "la gande guerre". Einhundert Jahre nach seinem Beginn erlebt dieser Krieg jedoch auch bei uns so etwas wie eine Hochkonjunktur – wenn dieser Begriff im Zusammenhang mit etwas so Schrecklichem wie einem Krieg statthaft ist. Es scheint jetzt, nach 100 Jahren, möglich zu sein, den Ersten Weltkrieg als eigenständiges historisches Ereignis zu würdigen. Damit geht auch einher, ihn nicht mehr nahezu ausschließlich als Präludium oder Vorspiel der NS-Diktatur und des aus deutscher Sicht noch viel zerstörerischeren, schrecklicheren Zweiten Weltkriegs zu sehen.


"In ganz Europa gehen die Lichter aus"

Als am späten Nachmittag des 1. August 1914 – es war ein Samstag – auch Mülheim die Nachricht von der Anordnung der allgemeinen Mobilmachung erreichte, ahnten die Zeitgenossen nicht, dass damit ein mehr als vierjähriger Krieg beginnen würde. Am Ende, im November 1918, war die Welt, so wie diese Zeitgenossen sie gekannt hatten, nicht mehr dieselbe. Die Landkarte Europas hatte sich verändert, alte Staaten waren untergegangen, neue entstanden. Die Monarchien in Deutschland, Österreich-Ungarn und Russland waren hinweggefegt worden und nicht zuletzt hatten schätzungsweise 17 Millionen Menschen als Soldaten und als Zivilisten auf allen Seiten ihr Leben verloren. Am Ende wusste vermutlich niemand mehr, worum es in diesem Krieg eigentlich gegangen war.

An seinem Anfang stand die Ermordung des österreichischen Thronfolgerpaares in Sarajewo im Juni 1914. Schien es zunächst, als ließe sich hier ein Krieg – wieder einmal – auf dem Balkan lokal begrenzen, wurde bald klar, dass dem nicht so sein würde. Die europäischen Bündnissysteme aber auch die verschiedenen nationalen Interessen ließen halbherzige diplomatische Bemühungen um einen Frieden im Sande verlaufen.

In den letzten Julitagen hatte auch die Mülheimer Zeitung ihre Leser auf ein "Europa in Kriegszuckungen" – so titelte sie noch am 27. Juli – eingestimmt. Nach der Erklärung des Kriegszustandes berichtete sie von einer in der ganzen Stadt deutlich spürbaren Anspannung. Überall versammelten sich Menschen, um die neuesten Neuigkeiten zu erfahren. Besonders das Verlagsgebäude der Zeitung aber auch die Kaserne an der Kaiserstraße standen in diesen Stunden im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Wie gesagt erreichte die Stadt am späten Nachmittag des 1. August die Nachricht von der Anordnung der Mobilmachung. An der Kaserne wurde darauf hin ein dreifaches Hurra auf den Kaiser ausgerufen und die Nationalhymne gesungen. Ein lauter Jubel bricht jedoch nicht aus. Die Zeitung berichtet später, die Menschen hätten ernst, gefasst aber auch mit Entschlossenheit die Nachricht aufgefasst, dass nun Krieg sein würde.

In den nächsten Tagen folgte nun die Umsetzung der Mobilmachungsanordnung. Militärpersonen und Kriegsfreiwillige meldeten sich beim zuständigen Bezirkskommando, die Friedensfahrpläne der Eisenbahn wurden durch Kriegsfahrpläne ersetzt, um die zu Tausenden einberufenen Soldaten zu ihren Einheiten zu bringen. Völlig still und reibungslos verlief der Kriegsbeginn in Mülheim allerdings nicht. Gerade in den ersten Augusttagen kam es hier häufiger zu gewalttätigen, nationalistischen Ausbrüchen gegen vermeintliche Angehörige der mit Deutschland im Krieg stehenden Nationen. Es reichte auch in Mülheim aus, für einen Russen gehalten zu werden, um aus einer Gaststätte geworfen und von einer wütenden Menge blutig geprügelt zu werden.  Andere Auswirkungen des Kriegsbeginns, wie Versorgungsengpässe bei bestimmten Gütern oder drastische Preissteigerungen bei Lebensmitteln, wiesen schon in diesen Augusttagen auf die kommenden Entbehrungen der folgenden Kriegsjahre hin. Im August 1914 dauerten diese Schwierigkeiten der Versorgungslage allerdings nur wenige Tage an. Im Laufe des Krieges wurden sie jedoch für weite Teile der Mülheimer Bevölkerung auf dramatische Weise zu einer das tägliche Leben bestimmenden Erfahrung.


Mülheimer im Krieg – an der Front und in der Heimat

Die Erwartungen der Menschen bei Kriegsbeginn, einen kurzen, gewiss siegreichen Feldzug mitzuerleben, wurden nicht erfüllt. Ganz im Gegenteil. Schon bald wurde das gesamte Leben in unserer Stadt auf allen Ebenen auf die Bedürfnisse des Krieges umgestellt. Männer wurden ins Feld eingezogen, so dass beispielsweise in der Mitte des Jahres 1916 bei einer damaligen Einwohnerzahl Mülheims von ungefähr 125.000 annähernd 20.000 Soldaten gemeldet wurden. Wie viele Mülheimer insgesamt während des Krieges unter Waffen standen, wie es damals hieß, ist nicht genau bekannt. Bekannt ist allerdings, dass mindestens 3.300 von ihnen im Krieg fielen, mindestens weitere 200 noch nach Kriegsende ihren Verletzungen erlagen. Wie viele Mülheimer Zivilisten kriegsbedingt ums Leben kamen, ist nicht zu sagen. Zahlreiche Menschen starben jedenfalls auch hier bei uns im Verlauf des Krieges, weil die Versorgung mit dem Lebensnotwendigsten nicht mehr gewährleistet war.

Die Zwangsbewirtschaftung von Lebensmitteln, die zunehmend nur noch gegen Vorlage entsprechender Bezugsscheine und –karten ausgegeben wurden, verhinderte nicht, dass die Bevölkerung spätestens ab dem berüchtigten Steckrübenwinter 1916/17 immer mehr ins Elend abrutschte. So betrug der tägliche Nährwert der staatlich theoretisch zugewiesenen Nahrungsmittel 1917 ungefähr 1.000 Kalorien – bei einem durchschnittlichen Bedarf von 2.200 Kalorien für einen Erwachsenen. Schwerstarbeiter kamen leicht auf einen Kalorienbedarf von 4.500 Kalorien, der trotz Zulagen nicht annähernd gedeckt werden konnte. Auf Dauer hielten dies die Menschen weder körperlich noch psychisch aus. Und die unter Titeln wie "Guter Rat in Kriegszeiten" in Tageszeitungen publizierten Tipps klangen manchmal fast zynisch: Dort hieß es dann beispielsweise mit Blick auf die Lebensmittelkarten:

"Verlier' keine Karten – gewöhn dich ans Warten"
"Heizen ohne Kohlen – Laufen ohne Sohlen"
"Koche ohne Fett – wärm dich im Bett"
"Werde nicht bös – sei nicht nervös"


Kriegswirtschaft

Nicht nur die Versorgungslage, auch die Arbeitswelt änderte sich dramatisch mit Beginn des Krieges. Da die eingezogenen Soldaten an ihren Arbeitsstätten fehlten, wurden dort zunächst Frauen und Jugendliche eingesetzt. Unter der Notwendigkeit der Kriegswirtschaft wurden dabei manche althergebrachten sittlichen oder moralischen Vorstellungen aufgegeben. Nun duften Frauen nicht nur in angestammten Männerberufen arbeiten, sie mussten es vielfach sogar. In zeitgenössischen Reimen hörte sich die neue Rollenverteilung dann so an:

"Treibt der Mann den Feind hinaus
bleibt müßig nicht die Frau zuhaus.
In Stadt und Land – so gut sie kann –
Steht jede Frau heut' ihren Mann."

Da kriegswichtige Unternehmen dennoch nicht mit ausreichend vielen Arbeitskräften versorgt werden konnten, wurden auch hier in Mülheim hunderte Kriegsgefangene in Steinbrüchen und Rüstungsbetrieben zur Zwangsarbeit eingesetzt. Damit verstieß das Deutsche Reich nicht nur gegen völkerrechtliche Bestimmungen, es zeigte damit auch an, dass hier erstmals in der europäischen Geschichte ein totaler, ein industrialisierter Krieg geführt wurde.

Dabei wurde das zivile Leben in der Heimat, oder an der "Heimatfront", wie es bald hieß, auf nahezu allen Ebenen vom Krieg berührt. Durch die britische Kontinentalsperre wurde das Deutsche Reich von dringend notwendigen Importen abgeschnitten, so dass sich im Laufe des Krieges eine stetig ansteigende Ersatzstoffwirtschaft entwickelte. Die Bevölkerung wurde dabei nicht nur durch die ständig zunehmende Verknappung aller möglichen und unmöglichen Güter belastet. Darüber hinaus musste sie auch zur Unterstützung der Rohstoff- und Altwarensammlungen beitragen und zum Beispiel Metall, Altpapier, Altkleider aber auch  Bucheckern und Obstkerne sammeln, beziehungsweise abgeben. Als ob all dies nicht genug gewesen wäre, wurden weitere Kriegslasten auf die Bevölkerung abgewälzt. Die Menschen sollten ihr Vermögen und ihre Ersparnisse in so genannte Kriegsanleihen investieren. Damit sollten die horrenden Kriegskosten mitfinanziert werden. Die Rückzahlung sollte dann – natürlich gut verzinst – nach dem siegreichen Kriegsende erfolgen. Die Kosten hierfür hätten die besiegten Feindmächte zu tragen gehabt, indem ihnen entsprechende Reparationszahlungen diktiert worden wären. Tatsächlich ist alles anders gekommen. Nicht wenige Familien, die aus patriotischem Pflichtgefühl ihr Vermögen in solche Papiere investiert hatten, waren bei Kriegsende wirtschaftlich völlig ruiniert. Durch die deutsche Niederlage waren diese Anleihen absolut wertlos geworden. Und statt die Kosten für diesen Krieg den Gegnern aufbürden zu können, mussten die Deutschen selbst Reparationszahlungen leisten.


Jugend im Krieg

Auch vor Kindern und Jugendlichen machte der Krieg nicht halt. Der Schulunterricht brachte den Kindern nicht nur immer neue patriotische Lieder und Gedichte bei, er erklärte auch die Notwendigkeit, diesen Krieg zu führen, dafür unter Umständen auch das Leben der Väter und Brüder, vielleicht sogar einmal das eigene zu opfern. Schülern der höheren Klassen wurde daher ermöglicht, vorgezogene Prüfungen abzulegen, um sich mit einem Schulabschluss versehen freiwillig zum Heeresdienst melden zu können. Auch wenn nicht automatisch jeder Kriegsfreiwillige so einen Schulab­schluss bekam, sind doch zahlreiche Fälle von Schülern dokumentiert, die nur vor diesem Hintergrund bei eigentlich nicht ausreichenden Leistungen ein entsprechen­des Zeugnis erhielten. Nach Schulschluss wurden Kinder und Jugendliche zu vormilitärischen Übungen herangezogen und für kriegswirtschaftliche Zwecke eingesetzt, wenn sie so genannten Jugendkompanien beitraten oder zum Beispiel Obstkerne, Altpapier und Buntmetall sammeln und für den Erwerb von Kriegsanleihen werben sollten.

(Bearbeitete und gekürzte Fassung von "Mülheim im Ersten Weltkrieg: Stadtarchiv erinnert an den Kriegsbeginn vor 100 Jahren" von Kai Rawe, in: Mülheimer Jahrbuch 2015, Seite 184-190).